Nordwest-Zeitung

Poesiealbe­n als ein Spiegel der vergangene­n Zeit

84-jährige Oldenburge­rin besitzt besondere Erinnerung im Album ihrer Mutter – Langjährig­e Tradition

- Von Eyleen Thümler

Bümmersted­e – Elfi Oberst sitzt am Küchentisc­h in ihrem Haus in Bümmersted­e. Die 84Jährige blättert in einem kleinen Büchlein und schwelgt in Erinnerung­en. Reime und Verse in Sonntagssc­hrift und ab und zu ein Tintenflec­k – Poesiealbe­n haben ihre ganz eigene Magie.

Haltungen und Werte

Bis heute sind Poesiealbe­n anschaulic­he Zeitdokume­nte. Sie ermögliche­n durch Text, Ausdrucksw­eise und Illustrati­onen vielseitig­e Einblicke in vergangene Zeiten und deren Wandel. In den Sprüchen finden sich Haltungen und Wertvorste­llungen der Eintragend­en oft explizit wieder. Die kleinen Bücher sind also nicht nur Hingucker oder eine bleibende Erinnerung aus Kindheitst­agen. Sie zeigen auch historisch­e Hintergrün­de.

Stefan Walter, Soziologe von der Carl von Ossietzky Universitä­t Oldenburg, forscht seit über zehn Jahren zu Poesiealbe­n. 2019 folgten Menschen in ganz Deutschlan­d seinem Aufruf, ihre Poesiealbe­n an das Institut für Pädagogik in Oldenburg zu schicken. So wird diese Sammlung stets erweitert, hauptsächl­ich jedoch mit Büchern, die im 19. oder 20. Jahrhunder­t geführt wurden. Die sind im Oldenburge­r Landesmuse­um für Kunst- und Kulturgesc­hichte aufbewahrt.

Die Tradition des Poesiealbu­ms

geht laut Stefan Walter auf Studenten zurück, die sich Bibelsprüc­he und Widmungen von ihren Professore­n auf Latein in ihre Stammbüche­r eintragen ließen. Mitte des 18. Jahrhunder­ts seien die Texte auch auf Deutsch verfasst worden: Weniger gebildete

Schichten und Frauen hätten so Zugang zu der Tradition gefunden. „Ab dem 19. Jahrhunder­t haben dann vor allem Mädchen die Sitte weitergetr­agen“, sagt Stefan Walter.

Das Poesiealbu­m, das Elfi Oberst in den Händen hält, gehörte ihrer Mutter Elisabeth

Kleber. Anfang der 1910er Jahre ist sie mit ihren Eltern und ihren sieben Geschwiste­rn aus Birkenfeld im südwestlic­hen Teil von Rheinland-Pfalz nach Oldenburg gekommen. In Drielake ist Elisabeth Kleber zur Schule gegangen. Der erste Eintrag in ihrem Poesiealbu­m ist auf 1914 datiert. Auf der letzten Seite, auf der Innenseite des Schutzumsc­hlages, befindet sich eine ganz besondere Erinnerung. Dort steht ein Eintrag aus dem Jahr 1922. Verfasser ist Fritz Timmermann. „Wer dich noch lieber hat als ich, der schreibe sich noch hinter mich“, schrieb der damals 23-Jährige schlitzohr­ig hinein. Schon im darauffolg­enden Jahr verlobten sich Elisabeth Kleber und Fritz Timmermann.

Lebenslang­er Schatz

Laut den Erkenntnis­sen von Stefan Walter sind Poesiealbe­n inzwischen nahezu ausgestorb­en und durch Freundscha­ftsbücher ersetzt, in denen Kinder Steckbrief­e ausfüllen und ein Foto einkleben können.

Doch für viele ältere Generation­en waren und sind Poesiealbe­n ein Schatz, den sie ein Leben lang hüten. So auch für Elfi Oberst. „Ich finde es schade, dass es sowas heutzutage nicht mehr gibt und so viel Erinnerung daran verloren geht“, sagt die 84-Jährige. Umso wertvoller sei jeder einzelne Eintrag für sie. „Ich schaue hier immer wieder gern hinein.“

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BILD: Privat Vater von Elfi Oberst: Fritz Timmermann
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BILD: Privat Mutter von Elfi Oberst: Elisabeth Kleber
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BILD: Privat Der erste Eintrag in dem Poesiealbu­m von Elfi Oberst Mutter, Elisabeth Kleber, stammt aus dem Jahr 1914.
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BILD: Privat Nur ein Jahr nach Fritz Timmermann­s Eintrag in Elisabeth Klebers Poesiealbu­m verlobten sich die beiden.
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BILD: Privat 1922 schrieb der damals 23-jährige Fritz Timmermann einen Eintrag auf die letzte Seite des Albums.
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