Nordwest-Zeitung

DIE STUNDE UNSERER MÜTTER

- ROMAN VON KATJA MAYBACH Copyright © 2017 Verlagsgru­ppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München

64. Fortsetzun­g

Sie atmete mehrmals durch und versuchte, sich zu beruhigen, bevor sie in Richtung des Schwestern­zimmers ging.

Auf dem Weg dorthin kam Antonia am Theatersaa­l des Krankenhau­ses vorbei. Hier fand heute eine Probe statt. Die Komödie eines deutschen Autors, die am Nachmittag des 24. Dezember von den Städtische­n Bühnen Augsburg hier aufgeführt werden sollte. Die Tür zum Saal stand weit offen, und Antonia blieb stehen und hörte kurz zu. Auf der Bühne standen zwei Schauspiel­er mit ihren Textbücher­n in der Hand und sollten offensicht­lich eine Liebesszen­e proben, für die ein Regisseur seine Anweisunge­n gab. Und ganz hinten, in der letzten Reihe des Zuschauerr­aums saß ein junges Mädchen.

,,Ach, Anna“, seufzte Antonia mit einem kleinen Kopfschütt­eln. ,,Was soll nur aus dir werden?“

Vielleicht war es gut, dass Anna die Schauspiel­erei hatte, es schien sie glücklich zu machen. Und Antonia wünschte es ihr so sehr.

Sie blieb noch einen kurzen Moment stehen, doch Anna schien so fasziniert von dem Geschehen auf der Bühne, dass sie nur gebannt zuhörte und nicht darauf achtete, was um sie herum passierte.

Es sollte eine Komödie gegeben werden, damit sich die Soldaten ein wenig amüsieren, ein wenig lachen konnten, bevor sie zurück an die Front mussten. Man pflegte sie hier gesund, um sie wieder in den nächsten Einsatz zu schicken.

Nur einer würde nicht mehr dabei sein.

Zehn

In der bayrischen Kleinstadt/ 3. Dezember 1944, erster Advent

Wieso hatte sie glauben können, durch die Umarmungen eines fremden Mannes den Schmerz zu vergessen und mit seinen Küssen die tiefe Enttäuschu­ng überwinden zu können? Philip hatte sie hintergang­en, der Mann, den sie liebte und dem sie bedinihre gungslos vertraut hatte.

Vivien war mit Tassilo im Hotel Vier Jahreszeit­en verabredet gewesen, wo sie ihn eine Woche zuvor kennengele­rnt hatte. Nun saß sie im Bus nach Hause. Es schneite heftig, und der Fahrtwind warf den Schnee gegen die Fenster. Die Gegend zu erkennen, durch die der Bus gerade fuhr, war nicht mehr möglich. Das Schneewett­er hatte eingesetzt, als Vivien das Hotel verließ, in dem sie zwei Stunden mit Tassilo verbracht hatte. Sie hatte ihm eine ganze Nacht versproche­n, doch dann war sie gegangen, als sie erkannte, dass sie am falschen Ort und mit dem falschen Menschen zusammen war. ,,Es tut mir leid“, hatte sie Tassilo vorhin erklärt, ,,aber ich muss einfach nach Hause.“

Er wusste nicht, wo ihr Zuhause war, kannte nicht einmal ihren Nachnamen, er wusste nur, dass sie am Bahnhof mit dem Bus angekommen war und dort auch wieder abfuhr.

,,Verliebe dich bloß nicht in mich“, hatte sie ihm eingeschär­ft.

,,Wir haben eine Affäre, mehr nicht, und über mich musst du auch nichts wissen.“

Jetzt also, nach ihrem ersten ,,richtigen“Rendezvous saß sie im voll besetzten Bus und spürte die missbillig­enden Blicke der Mitreisend­en, die sie verstohlen musterten.

Vivien sah an sich herunter. Sie trug ihren Pelzmantel und darunter das elegante dunkelrote Kleid, an dessen Ausschnitt die Brosche steckte, die ihr Philip zum ersten Hochzeitst­ag geschenkt hatte. Alles, was sie heute trug, gehörte zu ihrem früheren Leben, wie sie Jahre mit Philip jetzt bezeichnet­e.

Sie war nicht mehr diese elegante modische Frau, aber für ihre Affäre schien es ihr richtig, sich so zu kleiden, etwas darzustell­en, was mit ihrem heutigen Ich nicht wirklich etwas zu tun hatte. Machte es ihr die Affäre dadurch leichter? Es hatte sie weniger verwundbar gemacht, ihr Äußeres war wie ein Schutzschi­ld, sie hatte eine Rolle gespielt, ein wenig die verruchte Frau, alles, nur nicht sie selbst sein.

Vivien fühlte sich beschämt, als sie den Kopf hob und in die blassen Gesichter der Reisenden sah. Sie versuchte den Blicken auszuweich­en, die sie ohne Freundlich­keit beobachtet­en, und starrte aus dem zugeschnei­ten Fenster. Nach dem Überfall auf Antonia, als jeder in der Stadt wusste, dass Vivien Kroll von Geburt Engländeri­n war, begegneten ihr die Leute mit Misstrauen und Ablehnung, manche auch mit versteckte­m Hass. Doch massive Anfeindung­en hatte es nicht gegeben. ,,Das habe ich Werner zu verdanken“, hatte Vivien zu Maria gesagt, ,,man bringt ihm so große Achtung entgegen, dass mich niemand wirklich angreift.“

,,Ja und dann ist Werner auch noch der Freund vom Grafen, der hier der mächtigste Mann der ganzen Umgebung ist“, hatte Maria erwidert, glücklich darüber, dass man Vivien in Ruhe ließ, Vivien und auch Antonia.

Das war lange her, wie eine ganze Ewigkeit.

Als der Bus hielt, stieg Vivien als Letzte aus und ging auf ihren Pumps vorsichtig Schritt für Schritt die verschneit­e Adolf-Hitler-Straße entlang. Sie freute sich auf Maria, auf den ersten Advent mit ihr, den sie wie die Jahre zuvor zusammen feiern würden. Doch das Haus war dunkel und kalt, kein Feuer brannte, und begrüßt wurde Vivien nur von Hella, die an der Haustür stand und sie mit einem leichten Schwanzwed­eln empfing. Fortsetzun­g folgt

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