DIE STUNDE UNSERER MÜTTER
65. Fortsetzung
,,Sicher hast du Maria erwartet. Tut mir leid, bin nur ich“, seufzte Vivien und ging rasch in ihr Zimmer, schlüpfte aus dem Mantel, dem Kleid, ihren nassen Schuhen und den Strümpfen. Erst als sie in Hosen und dem dicken Pullover in ihren warmen karierten Hausschuhen wieder nach vorne schlurfte, fühlte sie sich wohl. In der Küche machte sie Feuer im Herd, dann setzte sie sich an den Tisch, auf dem der halb gebundene Adventskranz lag. Zögernd griff sie nach den Tannenzweigen.
,,Meinst du, ich kriege das hin?“, wandte sie sich an Hella, die jede ihrer Bewegungen mit einem Schwanzwedeln kommentierte. ,,Wie schade, dass du mir nicht sagen kannst, wann Maria zurückkommt und wo sie ist. Aber siehst du, jetzt fange ich auch schon an, mit dir zu reden. Und du verstehst mich, oder?“
Hella ließ ein kleines Bellen hören.
Maria hatte am Vormittag ihrer Schwägerin nachgesehen, wie diese um die Ecke bog und verschwand. Einige Zeit stand sie noch dort, in der Hoffnung, der Bus falle bei dem Wetter aus und Vivien käme zurück, um den heutigen 1. Advent mit ihr zu feiern.
War es wirklich ein Trost für sie, dass sie heute nach Augsburg fuhr, um einen Mann zu treffen, sich Hals über Kopf in eine Affäre zu stürzen? War es die richtige Entscheidung, es ihrem Mann gleichzutun?
Maria hatte Vivien gegenüber ihre Zweifel und Bedenken geäußert, auch über ihre Sorge gesprochen, dass ihre Schwägerin mit dieser Affäre sogar das Risiko einging, in einen Bombenangriff zu geraten. Augsburg war durch seine Industrie in den Fokus der Alliierten gerückt.
Doch Vivien hatte alle Bedenken ihrer Schwägerin mit einer ungeduldigen Handbewegung abgetan. ,,Es kann jeden überall treffen“, erklärte sie nur.
Als Maria zurück ins stille Haus gegangen war, überfielen sie die Erinnerungen an längst vergangene Adventsonntage, als Anna noch ein Kind war und voller Aufregung ihren Brief ans Christkind schrieb. So entschloss sie sich, in den Wald zu gehen, und da Hella es sich in ihrem Korb gemütlich gemacht hatte, ging sie allein. Sie wollte noch ein paar Tannenzweige holen, um den Kranz üppiger auszuschmücken. Ihr Weg führte sie am Stadtwall vorbei, vor dessen verlassenen Häusern sich der Schnee türmte und ein Schild mit der Aufschrift Einsturzgefahr fast verdeckte. Dann lief sie an den Hopfenfeldern entlang, verharrte kurz und blickte zu der Stelle hinüber, an der damals der alte Bäcker Fesl tot aufgefunden wurde. Die Täter, die ihn totgeprügelt hatten, waren nie gefasst worden. Genauso wenig wie diejenigen, die Antonia niedergeschlagen hatten. Doch vor einem Jahr hatten diese Überfälle auf ,,Feinde des Reiches“ganz plötzlich aufgehört, und viele Leute in der Stadt glaubten daher, es seien Halbwüchsige gewesen, die einberufen worden waren und an die Front mussten.
Maria ging weiter über die verschneiten Wiesen bis zum Wald. Tief beugten sich die Zweige der Tannen unter der Last des Schnees. Ein aufgescheuchter Vogel flog mit einem erschreckten Laut hoch, dann herrschte wieder Stille.
Jetzt blieb sie zwischen den Bäumen stehen und sah zum Lager hinüber. Die Baracken waren schwach beleuchtet, und vom Wehrturm aus glitt der Suchscheinwerfer über den Himmel, erfasste die Straße auf der anderen Seite, glitt weiter bis über den Wald, dorthin, wo Maria stand. Rasch zog sie sich zurück.
,,Nadja“, flüsterte sie. ,,Nadja, ich wünsche mir so sehr, dass du gesund bist. Bitte halte durch! Der Krieg kann nicht mehr lange dauern, dann bist du frei! Bitte Nadja.“
Oft hatten Vivien und sie über das russische Mädchen gesprochen, sich Gedanken gemacht und tief bereut, dass sich nach Fesls Ermordung keine Verbindung mehr zum Lager ergab. Informationen über die Insassinnen gab es nicht, niemand wusste, wer dort noch lebte, erfroren oder durch Krankheiten oder an Schwäche gestorben war. Sie und Vivien hatten oft das Gefühl, die Frauen im Stich gelassen zu haben. Die Hoffnung, dass Nadja eines Tages nach Hause kam, hatte Maria in den vergangenen Jahren aufgegeben. In der Stadt tuschelte man, dass viele Frauen bereits im vergangenen eisigen Winter erfroren seien, andere weggebracht wurden.
Maria stand lange zwischen den Bäumen, bis sie vor Kälte zitterte, doch sie harrte aus und sah hinüber zu den Baracken, als erwarte sie, dass sich dort etwas ereignete. Aber alles blieb still und dunkel.
Es strengte an, sich durch den hohen Schnee zu kämpfen, sie war erschöpft und fürchtete sich vor dem leeren Haus und der Einsamkeit. Aber Hella würde sie erwarten. Völlig verfroren bog sie in die Adolf-Hitler-Straße ein.
Es brannte Licht im Haus, und aus dem Kamin stieg Rauch in den kalten Winterhimmel auf. War Anna nach Hause gekommen, um mit ihr den ersten Advent zu feiern?
Als Maria voller Erwartung die Haustür aufschloss, lief ihr eine gut gelaunte Hella schwanzwedelnd entgegen. Angenehme Wärme kam aus der Küche, und da stand Vivien in der Tür, an den Rahmen gelehnt.