Heißes Herz weicht kühlem Kopf
Cho Nam-Joos Buch „Kim Jiyoung, geboren 1982“endlich auf Deutsch
Herr Orth, bereits zum vierten Mal haben Sie Ihre Erfahrungen beim Couchsurfing, das Übernachten in fremden Betten abseits von Hotels und Ferienwohnungen, in einem Buch verarbeitet. Was waren in Saudi-Arabien die größten Herausforderungen?
Orth: Es war schwerer als auf anderen Reisen, Gastgeber zu finden. Couchsurfing ist noch etwas ganz Neues dort, vor Herbst 2019 gab es quasi keinen Tourismus – abgesehen natürlich von Millionen Pilgern jedes Jahr. Ich fand es wahnsinnig spannend, dort quasi Neuland zu entdecken.
Erlebt das Couchsurfing in Corona-Zeiten nicht gerade einen enormen Rückschlag? Orth: Diese Art zu reisen, bei der es stark um persönliche Kontakte geht, ist während einer Pandemie sehr problematisch. Seit Mitte März hatte ich weder Gäste, noch habe ich selbst Menschen besucht. Generell wird derzeit weniger gereist als sonst, und zu der aktuellen Situation passen wohl eher Wohnmobile oder Ferienhäuser.
Wie sehr sehnen Sie als Autor die Möglichkeit herbei, wieder auf Lesetouren mit Publikum gehen zu können?
Orth: Der direkte Kontakt zum Publikum fehlt mir schon sehr. Und ich finde es spannend, wie ein Buch in einem Live-Vortrag zum Leben erwachen kann. In manchen Jahren mache ich 60 bis 80 Lesungen und Multimedia-Shows, da fällt schon ein wesentlicher Teil meines Jobs weg.
Wird es weitere CouchsurfingTitel geben? Und welches literarische Projekt nehmen Sie als nächstes in Angriff? Orth: Ich denke schon, aber derzeit ist es schwer, etwas zu planen. Ich habe eine Liste mit möglichen Reisezielen, noch ist nichts entschieden – aber bestimmt wird es wieder ein eher ungewöhnliches Land. Mallorca oder die Toskana sind nicht im Rennen.
Die Corona-Beschränkungen bringen Zeit zum Lesen mit sich. Welches Buch empfehlen Sie für diese Zeiten?
Orth: Ich habe in diesen Wochen eine neue Begeisterung für Reise-Bildbände entwickelt – die helfen ein bisschen gegen das Fernweh. Sensationell ist beispielsweise „Face to Faith“über den heiligen Berg Kailash in Tibet von Samuel Zuder.
Als Drehbuchautorin fürs Fernsehen war die Koreanerin Cho Nam-Joo viele Jahre lang tätig, bis ihr erster Roman sie ins Rampenlicht schob. „Kim Jiyoung, geboren 1982“wurde zum weltweiten Bestseller und liegt nun auch auf Deutsch vor; Ki-Hyang Lee übersetzte den schmalen Band. Dass es den hiesigen Buchbegeisterten jetzt zur Verfügung steht, so viel sei vorweggenommen, ist ein großer Gewinn.
Hauptlast zu schultern
Kim Jiyoung steht zu Beginn der Erzählung neben sich. So zumindest nehmen die Menschen um sie herum die 33-Jährige wahr, als sie beginnt, mit fremden Stimmen zu sprechen. Bei einer Familienfeier, bei der sie – wieder einmal – die Hauptlast der Arbeiten zu s chultern hatte, bricht es aus ihr heraus. Sie schlüpft in die Rolle ihrer eigenen Mutter, klagt wütend an. „Es kam zum Eklat“, heißt es über das, was sie schließlich zu einem Psychiater bringt.
Das Herzstück des Romans liefert in der Folge einen sprachlich bewusst nüchtern und oft sachlich gehaltenen Bericht über die Lebensgeschichte der Protagonistin. Von der Geburt bis zur Gegenwart wird in knappen Sätzen ihr Leben ausgebreitet.
Schnell wird dabei klar, was im Mittelpunkt steht: die Rolle der Frau in Südkorea. Und je weiter die Geschichte voranschreitet,
Leseprobe aus je vielfältiger die Einblicke ins Familien- und Berufsleben werden, desto deutlicher wird beim Lesen: Es geht nicht nur um Südkorea. Denn das, was Kim Jiyoung widerfährt, darüber können Frauen in der ganzen Welt berichten.
Es fängt schon damit an, dass ihre Eltern eigentlich viel lieber einen Sohn auf die Welt gebracht hätten. Hier und auch an anderen Stellen arbeitet die Autorin sogar mit Fußnoten, für einen Roman eher ungewöhnlich, aber in dieser Form durchaus erhellend für die Lektüre. Und es
Cho Nam-Joo: geht weiter: Söhne werden grundsätzlich gegenüber ihren weiblichen Geschwistern bevorzugt, in der Schule gibt es unerwünschte Berührungen, die nur scheinbar zufällig geschehen. Die Aufdringlichkeiten eines Fremden kommentiert Kim Jiyoungs Vater so: „Warum trägst du überhaupt einen so kurzen Rock?“
Viele Demütigungen
Die Demütigungen und Zurückweisungen setzen sich fort. Trotz bester Kenntnisse einen Job finden? Alles andere als einfach. Im späteren Familienleben
auf die konsequente Unterstützung des Ehemanns setzen? Weit gefehlt. Als herauskommt, dass an ihrer früheren Arbeitsstätte Kameras auf der Frauentoilette installiert wurden und die Betroffenen Konsequenzen einfordern, heißt es lapidar: „Für die Frauen ist es doch auch nicht gerade vorteilhaft, wenn die Gerüchte künstlich aufgebauscht werden.“
Die Raffinesse der Autorin besteht darin, dass sie dem Roman eine universelle Gültigkeit verleiht. Die konsequente Austauschbarkeit sowohl der Protagonistin als auch ihrer Herkunft ist eben kein Defizit, sondern einer der Vorzüge des Werks. Ganz zum Ende, als die Perspektive der Erzählung klar wird, wartet die Autorin mit einer Pointe auf, die das Buch vortrefflich abschließt. Ein Buch, das nachhallt. Übrigens: Der Roman wurde inzwischen verfilmt, heizte eine breite Debatte an und löste Massenproteste in Südkorea aus.
Der menschliche Makel spielt bei Richard Ford eine wichtige Rolle. Viele seiner Figuren kommen früher oder später vom Weg ab, sind aus ihrer Routine geworfen und mit Unvorhersehbarem konfrontiert. Darauf kann man bei ihm warten. Doch der Pulitzer-Preisträger und Bestseller-Autor aus den USA lässt sie nicht allein in ihrem Schicksal. So ergeht es auch den Figuren in „Irische Passagiere“. Der neue Erzählungsband besteht auch diesmal aus exakten Beschreibungen der menschlichen Schicksale und der seelischen Abgründe. Das geschieht mit sprachlicher Eleganz und Präzision bei einem schlankem Satzbau. Auch wenn er vieles abstrakt klingen lässt wie hier: „Jetzt gingen sie fast nebeneinander, halb im Kontakt, halb im Konflikt. Sie schwitzte am Haaransatz, vom Alkohol. Er überlegte, sie an der Schulter zu berühren, um zu ihr aufzuschließen. Er stellte sich ihre Schulter auch in der Hitze kühl vor“, wird die Feuchtigkeit spürbar und die Luft zum Schneiden. Auch hier: „Eine stetige brütende Süße strudelte landeinwärts.“Man ahnt sofort, was gemeint ist. Richard Ford bleibt ein Großmeister unter den Geschichtenerzählern, egal ob Gesellschaftspanorama oder Short Story.