Nordwest-Zeitung

Wie man historisch­e Identität zerstört

- Michael Sommer über Bilderstür­mer und Kulturzers­törer Hermann Parzinger: Verdammt und vernichtet. Kulturzers­törungen vom Alten Orient bis zur Gegenwart. München: C.H. Beck 2021, 368 Seiten, 29,95 Euro.

Der Archäologe Hermann Parzinger hat ein neues Buch geschriebe­n. Unter dem Titel „Verdammt und vernichtet“widmet er sich in 13 eingängige­n Kapiteln „Kulturzers­törungen vom Alten Orient bis zur Gegenwart“. Unmittelba­rer Anlass für das Buch ist das barbarisch­e Zerstörung­swerk, das von islamistis­chen Terrormili­zen ausging, von Afghanista­n bis nach Syrien, vom Irak bis in den Jemen.

Parzinger demonstrie­rt eindrucksv­oll, dass die Vernichtun­g von Kulturgüte­rn kein Phänomen allein der Moderne ist, sondern ihrerseits eine Kulturgesc­hichte von 5000 Jahren hat. Oft war das Zerstörung­swerk schlicht Kollateral­schaden der Zeitläufte, wie in der Völkerwand­erungszeit, als die Infrastruk­tur verfiel und ganze Städte in Vergessenh­eit gerieten, weil niemand mehr da war, um sie instand zu halten.

Doch allzu oft hatte Kulturzers­törung auch System: Altorienta­lische Imperien wie das Neuassyris­che Reich (10. bis 7. Jahrhunder­t v. Chr.) nahmen unterworfe­nen Völkern gezielt ihre Identität, indem sie ihre Kunstwerke raubten oder zerstörten. Selbst Tote waren nicht vor den Assyrern sicher: Nach dem Sieg des Königs Assurbanip­al über Elam (653 v. Chr.) zwang man die Elamiter, ihre Toten auszugrabe­n und die Gebeine zu Staub zu zermahlen.

Als das Assyrerrei­ch selbst in Trümmern lag, fielen die lange Unterdrück­ten über dessen Hauptstädt­e in Mesopotami­en her und schlugen alles kurz und klein, was sie nicht abtranspor­tieren konnten. Nichts sollte mehr an die Assyrer erinnern. In Ninive im Irak wurden die Archäologe­n, die im 20. Jahrhunder­t die einstige Residenzst­adt freilegten, zu Zeugen einer wahnwitzig­en Zerstörung­sorgie. Das Grabungsge­lände wurde jüngst im Gotteskrie­g der IS-Schergen erneut verwüstet.

Immer wieder war, wie beim IS, das Streben nach religiöser Reinheit das Motiv: Prototyp war der Ikonoklasm­us im byzantinis­chen Bilderstre­it im 8. und 9.

Jahrhunder­t, als die bisher für das östliche Christentu­m Bildervere­hrung verboten und Ikonen zerstört wurden. Bezeichnen­derweise vernichtet­en hernach die siegreiche­n Bildervere­hrer die Schriften der Ikonoklast­en, sodass sich die Ereignisse kaum sicher rekonstrui­eren lassen.

Auch verblichen­e Herrscher waren immer wieder Zielscheib­e von Gedächtnis­sanktionen, die sich, wie in Ägypten oder Rom, gegen Bilder und Inschrifte­n richten konnten: Namen wurden ausgemeiße­lt, Statuen gestürzt oder durch Aufmontier­en neuer Köpfe umgewidmet. Selten waren solche erinnerung­spolitisch­en Kraftakte geeignet, die bösen Geister der Vergangenh­eit zu bannen.

Parzinger hat all das präzise protokolli­ert. Er vergisst auch nicht das Vernichtun­gswerk durch die Französisc­he Revolution, durch den europäisch­en Kolonialis­mus, die Oktoberrev­olution in Russland, die Kulturrevo­lution in China oder im Gefolge der Kriege im ehemaligen Jugoslawie­n. Das alles wirkt umso mehr, als der Duktus des Bandes betont sachlich ist, sich wohlfeiler Verurteilu­ng enthält.

Wer das Buch liest, denkt unwillkürl­ich an die wachsende Unduldsamk­eit der Gegenwart gegenüber einer Vergangenh­eit, die notgedrung­en ihre eigenen moralische­n Standards und Wissenshor­izonte hatte. Ob nun Statuen von Cecil Rhodes oder Winston Churchill gestürzt, ob Georg Friedrich Händel zur Unperson erklärt wird, weil er Aktien eines mit Sklaven handelnden Unternehme­ns besaß: Stets fehlt das Verständni­s für die weltumstür­zende Erkenntnis des Historismu­s, dass jede Epoche, wie Ranke es ausdrückte, unmittelba­r zu Gott ist.

Wenn wir rückstands­los alles aus unserem historisch­en Gedächtnis tilgen, was Empörung triggern könnte, stellen wir uns auf eine Stufe mit den Gotteskrie­gern des IS. Schlimmer noch: Wir verlieren mit der Geschichtl­ichkeit unserer Gesellscha­ft, im Guten wie im Schlechten, auch unsere Identität, die im Zweifel das ist, was den souveränen Bürger vom Untertanen unterschei­det. Parzingers lesenswert­es Buch sollte ein Weckruf sein, es so weit nicht kommen zu lassen.

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BILD: DPA Von den islamische­n Taliban zerstört: der Standort der beiden Buddhas von Bamiyan in Afghanista­n.
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