Wie man historische Identität zerstört
Der Archäologe Hermann Parzinger hat ein neues Buch geschrieben. Unter dem Titel „Verdammt und vernichtet“widmet er sich in 13 eingängigen Kapiteln „Kulturzerstörungen vom Alten Orient bis zur Gegenwart“. Unmittelbarer Anlass für das Buch ist das barbarische Zerstörungswerk, das von islamistischen Terrormilizen ausging, von Afghanistan bis nach Syrien, vom Irak bis in den Jemen.
Parzinger demonstriert eindrucksvoll, dass die Vernichtung von Kulturgütern kein Phänomen allein der Moderne ist, sondern ihrerseits eine Kulturgeschichte von 5000 Jahren hat. Oft war das Zerstörungswerk schlicht Kollateralschaden der Zeitläufte, wie in der Völkerwanderungszeit, als die Infrastruktur verfiel und ganze Städte in Vergessenheit gerieten, weil niemand mehr da war, um sie instand zu halten.
Doch allzu oft hatte Kulturzerstörung auch System: Altorientalische Imperien wie das Neuassyrische Reich (10. bis 7. Jahrhundert v. Chr.) nahmen unterworfenen Völkern gezielt ihre Identität, indem sie ihre Kunstwerke raubten oder zerstörten. Selbst Tote waren nicht vor den Assyrern sicher: Nach dem Sieg des Königs Assurbanipal über Elam (653 v. Chr.) zwang man die Elamiter, ihre Toten auszugraben und die Gebeine zu Staub zu zermahlen.
Als das Assyrerreich selbst in Trümmern lag, fielen die lange Unterdrückten über dessen Hauptstädte in Mesopotamien her und schlugen alles kurz und klein, was sie nicht abtransportieren konnten. Nichts sollte mehr an die Assyrer erinnern. In Ninive im Irak wurden die Archäologen, die im 20. Jahrhundert die einstige Residenzstadt freilegten, zu Zeugen einer wahnwitzigen Zerstörungsorgie. Das Grabungsgelände wurde jüngst im Gotteskrieg der IS-Schergen erneut verwüstet.
Immer wieder war, wie beim IS, das Streben nach religiöser Reinheit das Motiv: Prototyp war der Ikonoklasmus im byzantinischen Bilderstreit im 8. und 9.
Jahrhundert, als die bisher für das östliche Christentum Bilderverehrung verboten und Ikonen zerstört wurden. Bezeichnenderweise vernichteten hernach die siegreichen Bilderverehrer die Schriften der Ikonoklasten, sodass sich die Ereignisse kaum sicher rekonstruieren lassen.
Auch verblichene Herrscher waren immer wieder Zielscheibe von Gedächtnissanktionen, die sich, wie in Ägypten oder Rom, gegen Bilder und Inschriften richten konnten: Namen wurden ausgemeißelt, Statuen gestürzt oder durch Aufmontieren neuer Köpfe umgewidmet. Selten waren solche erinnerungspolitischen Kraftakte geeignet, die bösen Geister der Vergangenheit zu bannen.
Parzinger hat all das präzise protokolliert. Er vergisst auch nicht das Vernichtungswerk durch die Französische Revolution, durch den europäischen Kolonialismus, die Oktoberrevolution in Russland, die Kulturrevolution in China oder im Gefolge der Kriege im ehemaligen Jugoslawien. Das alles wirkt umso mehr, als der Duktus des Bandes betont sachlich ist, sich wohlfeiler Verurteilung enthält.
Wer das Buch liest, denkt unwillkürlich an die wachsende Unduldsamkeit der Gegenwart gegenüber einer Vergangenheit, die notgedrungen ihre eigenen moralischen Standards und Wissenshorizonte hatte. Ob nun Statuen von Cecil Rhodes oder Winston Churchill gestürzt, ob Georg Friedrich Händel zur Unperson erklärt wird, weil er Aktien eines mit Sklaven handelnden Unternehmens besaß: Stets fehlt das Verständnis für die weltumstürzende Erkenntnis des Historismus, dass jede Epoche, wie Ranke es ausdrückte, unmittelbar zu Gott ist.
Wenn wir rückstandslos alles aus unserem historischen Gedächtnis tilgen, was Empörung triggern könnte, stellen wir uns auf eine Stufe mit den Gotteskriegern des IS. Schlimmer noch: Wir verlieren mit der Geschichtlichkeit unserer Gesellschaft, im Guten wie im Schlechten, auch unsere Identität, die im Zweifel das ist, was den souveränen Bürger vom Untertanen unterscheidet. Parzingers lesenswertes Buch sollte ein Weckruf sein, es so weit nicht kommen zu lassen.