Das Rätsel um die verschwundenen Klassenbücher
Alt-oldenburgische Erinnerungen an einen nie aufgeklärten Diebstahl – Der Letzte einer langen Reihe erzählt
Es begab sich zu einer Zeit, zu der im schönen Oldenburg noch eine nachkriegsbedingte totale Aufbruchstimmung herrschte und keine coronabedingten Lähmungserscheinungen das Tagesgeschehen prägten. Selbst die von höchster pädagogischer Stelle unterstützten, andererseits aber als staatsfeindlich angesehenen Protestaktionen der Oberstufenschülerin eines benachbarten Mädchengymnasiums gegen das Establishment sorgten für Sympathiewerte, bis diese später für bundesweite
Aufmerksamkeit sorgte, im kriminellen Untergrund verschwand und dort auch endete. Unter dem Titel „Gewalt erzeugt Gegengewalt“veröffentlichte die NWZ damals einen Leserbrief des Verfassers dieser Zeilen mit der
Aufforderung, der beginnenden pazifistisch/sozialistisch orientierten Gegenbewegung nicht mit Polizeigewalt, sondern mit politischen Reaktionen, jedenfalls aber friedlich zu begegnen. Und nicht mehr ganz zeitgleich, natürlich aber in Aufbruchstimmung, wurde der VfB Oldenburg von Ötti Meyer und Fiffi Gerritzen, dem späteren NationalRechtsaußen im „Hunderttausendmarksturm“von Preußen Münster, oberligareif geschossen.
In solchem Umfeld standen am 21./22. Februar 1951 die Schüler der Klasse 12 OS des Alten Gymnasiums vor der mündlichen Abiturprüfung, bei der die Benotung der einzelnen Fächer erfahrungsgemäß vor Überraschungen nicht gesichert war. Tatsächlich lag die erste Überraschung allerdings nicht aufseiten der Schüler, sondern in den Händen des nicht besonders beliebten Klassenlehrers Dr. Wilbrandt, der von heute auf morgen etwas nicht mehr in den Händen hielt, nämlich die Klassenbücher der 12 OS für die Schuljahre 1948/49 und 1950/51 mit sämtlichen Vornoten der Schüler.
Hochnotpeinliche Untersuchungen und der Versuch der Lehrer, ihre Vornoten aus persönlichen Aufzeichnungen und aus dem Gedächtnis zu rekonstruieren, waren die Folge. Trotzdem konnte nicht ermittelt werden, auf welche Art und Weise und durch wessen Initiative die Klassenbücher entwendet wurden. In der Klasse selbst wurden allenfalls Vermutungen angestellt, wem nach seinem Habitus eine solche Aktion zuzutrauen war. Ob und inwieweit die neuen Noten maßgeblich dafür waren, dass alle 16 Schüler die Abiturprüfung bestanden, musste dahingestellt bleiben.
Es folgten mehrere Jahrzehnte mit gelegentlichen Klassentreffen, bei denen immer mal wieder ergebnislos nach dem Verbleib der Klassenbücher gefragt wurde, bis eines Tages ein Paket ohne Absender bei einem ehemaligen Mitschüler eintraf, in dem sich die beiden Klassenbücher befanden. Fortan wurden diese nach dem Tode des jeweiligen Besitzers quasi als Vermächtnisleistungen an den nächsten noch als lebend bekannten Mitschüler weitergeleitet.
Auf wundersame Weise erfuhren somit etliche Klassenkameraden – so wurden wir damals bezeichnet – noch zu Lebzeiten , welche Vornoten in den Klassenbüchern notiert waren. Dem Vernehmen nach wurden aber keine Anträge auf nachträgliche Notenkorrekturen gestellt. So gut wie sicher ist es aber , dass der Täter sein Geheimnis mit ins Grab genommen hat.
Im Jahr 2021, also nach 70 Jahren, landeten die Klassenbücher mit einer Widmung des 2020 verstorbenen Vorgängers schließlich beim Verfasser, mit Abstand Jüngster der Klasse und vermutlich einer der letzten – wenn nicht der letzte – der 12 OS-Abiturienten des Jahres 1951.
Der Verfasser selbst – mit durchaus mittelmäßigen Vornoten, dennoch heute noch freiberuflich tätig – wird die Klassenbücher nunmehr wieder dem Alten Gymnasium zur Verfügung stellen, wo sie möglicherweise noch rechtzeitig vor dem 450. Schuljubiläum in 2023 einen Archivplatz bekommen, sicherlich aber für gehöriges Vergnügen der heutigen Lehrerschaft und Schüler des Alten Gymnasiums sorgen könnten.