Über die Sehnsucht des Menschen nach Unverwechselbarem
Spannungsliteratur hat in Ostfriesland ein Zuhause. Vielleicht weil der Geburtsort des deutschen Kriminalromans in Ostfriesland liegt.
Für viele Menschen ist Die Judenbuche von Annette von Droste Hülshoff der erste deutsche Kriminalroman, aber das denke ich nicht. Es ist mehr eine Novelle als ein Roman und eher ein Sittengemälde als Spannungsliteratur.
Die Geburtsstunde des deutschen Kriminalromans erlebte ich, versteckt hinter Kartons mit Haarsprayflaschen und Dauerwellflüssigkeit, im zarten Alter von zehn Jahren im Friseurgeschäft meiner Mutter in Gelsenkirchen. Dort lagen Illustrierte aus, die ich
Klaus-Peter Wolf, Bestsellerautor und Verfasser der berühmten Ostfrieslandkrimis, schreibt jede Woche für unsere Zeitung auf, was ihm als WahlOstfriesen an Norddeutschland so sehr gefällt.
regelmäßig heimlich las. Ich blätterte darin auf der Suche nach Werbung für Damenunterwäsche und ähnlich spannenden Dingen. Stattdessen fand ich „Gefährliche Neugier“von Hansjörg Martin.
Der Krimi spielte in Ostfriesland, und die Sätze von Hansjörg Martin ließen mein Herz schneller klopfen. Natürlich wollte ich wissen, wie es weitergeht.
Ich stürmte in die Stadtbibliothek und wollte mir diesen Roman ausleihen, aber die Bibliothekarin lächelte mich nur milde an.
Ein Krimi von einem deutschen Autor – nein, das gäbe es nicht. Wir schrieben das Jahr 1964.
Kriminalromane kamen aus England, Skandinavien oder den USA. Ermittelt wurde in den Häuserschluchten von New York, London oder Stockholm, nicht etwa in Deutschland – und schon mal gar nicht in Ostfriesland.
Hansjörg Martin läutete 1964 eine neue Ära ein. Er hatte auf Norderney zu schreiben begonnen, und seine Erfahrungen als Bühnenbildner bei der Ostfriesischen Landesbühne inspirierten ihn zu seinem ersten Krimi. Henri Nannen, auch ein Ostfriese und damals Chef der Illustrierten „Stern“, druckte ihn in Fortsetzungen ab. Der Siegeszug des deutschen Kriminalromans begann also in Ostfriesland. Bald schon schnellten die Auflagenzahlen hoch. Die Kritik belächelte das alles, und das Fernsehen war auch noch nicht so weit. Der erste „Tatort“war noch nicht gedreht.
Der Ostfrieslandkrimi ist nicht einfach irgendein Regionalkrimi. Nein, eine eigene Gattung ist inzwischen entstanden.
Die Anonymität, aus der Großstadtkrimis ihren Grusel beziehen, gibt es hier nicht.
Im Ostfrieslandkrimi wird die Landschaft zum Protagonisten der Handlung. Je austauschbarer die Innenstädte der Metropolen werden, umso größer wird die Sehnsucht der Leser nach Unverwechselbarkeit. Fast jeder Verlag möchte gern eine eigene Ostfriesenkrimireihe starten. Es gibt dort großartige Autorinnen und Autoren. Zum Beispiel Christiane Franke, Regine Kölpin, Heike und Peter Gerdes oder Manfred C. Schmidt.
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