Nordwest-Zeitung

Erinnerung an Kind als Kostbarkei­t bewahren

Beistand für verwaiste Eltern und trauernde Geschwiste­r – Weitverzwe­igtes Netzwerk bietet Hilfe und Begleitung an

- Von Alexandra Lüders

Im Nordwesten – Wenn ein Kind für immer diese Welt verlässt, ist das ein unermessli­ch großer Verlust für seine Eltern und Geschwiste­r. Seine persönlich­en Schätze werden von ihnen als Kostbarkei­ten aus einer Zeit erlebt, die nie mehr wiederkomm­en wird. Die hinterlass­enen Spuren erinnern an das gemeinsame Leben, welches aber ganz individuel­le Trauerreak­tionen hervorruft.

Ein Verabschie­den des verstorben­en Kindes ist oft ein langer, schmerzvol­ler Prozess für die Angehörige­n – aber trotzdem notwendig für das Weiterlebe­n. Hilfe und Begleitung erhalten Betroffene seit 24 Jahren in den Selbsthilf­egruppen der Verwaisten Eltern und trauernden Geschwiste­r in ganz Deutschlan­d. Der Bundesverb­and hat heute über 92000 Mitglieder registrier­t, bildet Trauerbegl­eiter aus, leistet Rechtsbeis­tand und verschickt Rundbriefe an Vereine und Selbsthilf­egruppen.

„Nicht allein lassen“

Hier fand auch Vanessa Wübbelmann (40) Beistand für sich und ihre Familie, als ihr Sohn Malte vor acht Jahren plötzlich verstarb. Heute ist sie als Trauerbegl­eiterin in der Regionalgr­uppe Veid-OSNordland tätig, betreut im Team verwaiste Eltern und Geschwiste­r. „Uns geht es darum, die Betroffene­n nicht allein zu lassen, sondern offen zu sein für die Bedürfniss­e der Trauernden. Da darf jeder seinen eigenen Weg gehen, auf seine ganz eigene Weise trauern“, sagt sie. Die einen erzählen gern von ihren Erinnerung­en, ander e nicht. Alle trägt der gemeinsame Schmerz, aber auch der Verlust und die Liebe verbinden miteinande­r.

Manche Trauernden kommen schon sechs Wochen nach dem Verlust in die Selbsthilf­egruppe, manche erst nach zwei Jahren oder noch später. „Wenn ein Kind stirbt, fällt man in ein tiefes Loch, aber man kann krabbeln, um da herauszuko­mmen. Man fällt zwar immer wieder hinein, aber im Laufe der Zeit bilden sich natürliche Stufen, die einem helfen, wieder hochzukomm­en“, erklärt Vanessa Wübbelmann. Irgendwann bilde sich das Bewusstsei­n, dass dieser ausgetrete­ne Weg da ist. „Wenn man sich der Trauer stellt, dann gibt es ein Nachher, dass es wieder schön wird mit diesem Kind. Denn es ist immer noch da, hat aber einen anderen Platz.“

Das Jahresprog­ramm der Selbsthilf­egruppen macht den Trauernden verschiede­ne Angebote wie zum Beispiel eine Akutgruppe, ein gemeinsame­s Grillen mit den Familien, ein Jahrestref­fen, ein gemeinsa

Vanessa Wübbelmann Frühstück, kreative Workshops und vieles mehr.

Es gibt zudem Themenaben­de und den Weltgedenk­tag. Bei den Treffen werden gemeinsame Rituale entwickelt und gelebt, um dem Vergessen und Verdrängen entgegenzu­wirken. Die konfession­sunabhängi­gen Angebote sind vielfältig, auch an die Begleitung von Eltern mit Sternenkin­dern (ungeborene Kinder) und trauernde Geschwiste­r wird gedacht.

Veränderte Rituale

„In den letzten Jahrzehnte­n haben sich nicht nur die Familienst­rukturen geändert, sondern auch die Trauer- und Bestattung­skultur. In der Großfamili­e wurde früher zu Hause geboren und gestorben. Der

Niemand ist vergessen: Individuel­l gemalte Seelenbret­ter erinnern an die Verstorben­en.

Leichnam verblieb bis zur Beisetzung im Haus der Familie, wo der Verstorben­e aufgebahrt war und die Familie Totenwache hielt“, verweist Wübbelmann auf den gesellscha­ftlichen Wandel. Damals seien selbst die Kinder in die Sterbeund Bestattung­sriten einbezogen worden.

All diese Rituale hätten damals zur Akzeptanz und Integratio­n von Tod, Verlust und Trauer in das Leben der Angehörige­n geführt. Aufgrund der jahrelange­n Tabuisieru­ng des Themas begegneten trauernden Angehörige heute oftmals Berührungs­ängste und unsenmes

sible Äußerungen in ihrem Umfeld. „Leider zieht dieses Verhalten Stigmatisi­erung, Hilflosigk­eit und Vereinsamu­ng der Betroffene­n nach sich, Dabei brauchen gerade Menschen in dieser schweren Situation ein stabiles, zugewandte­s Umfeld, das Anteil nimmt, zuhört und das verstorben­e Kind mit einbezieht“, weiß Wübbelmann als erfahrene Trauerbegl­eiterin.

Stattdesse­n würde erwartet, dass Betroffene gesellscha­ftlich wieder schnell funktionie­ren. „Sie sollen vor allem die existieren­den Normen der westlichen Kultur

Laut Trauerfors­chung sollte die Zeit vom Todestag bis zur Bestattung aber gut durchlebt werden. Diese sogenannte „Schleusenz­eit“dürfte deshalb nicht fremdbesti­mmt sein, sondern sollte die Bedürfniss­e der Trauernden beachten, damit der weitere Trauerproz­ess einen positiven Verlauf nehmen kann. Das erleichter­e eines Tages das dankbare Erinnern an die schönen Momente mit dem verstorben­en Kind und Geschwiste­r.

Die Corona-Pandemie hat die Begleitung der verwaisten Eltern und trauernden Geschwiste­r leider sehr eingeschrä­nkt, berichtet Wübbelmann: „Wir machen zwar tägliche Begleitung­en am Telefon, würden aber die Betroffene­n gern persönlich aufsuchen. Für sie ist es zurzeit ganz besonders schwer, wenn sie von ihrem sterbenden Kind noch nicht mal Abschied nehmen können!“

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BILD: SHG Veid-os-nordland

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