Nordwest-Zeitung

DIE STUNDE UNSERER MÜTTER

- ROMAN VON KATJA MAYBACH Copyright © 2017 Verlagsgru­ppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München

68. Fortsetzun­g

Anna und Antonia begegneten sich nur selten im Krankenhau­s. Denn Anna schwänzte oft, erfand Ausreden, wenn sie dazu abkommandi­ert war, Verbandsze­ug auszuwasch­en oder Bettpfanne­n zu säubern. Und wenn es irgendwie ging, hielt sie sich im Apothekerh­aus auf, um mit Siglinde Stockmann zu arbeiten.

Sie erlernte die richtige Körperhalt­ung, Atmung und Artikulati­on. Doch als sie Antonia davon erzählen wollte, war ihre Cousine unkonzentr­iert, meinte nur, Anna müsse es zu Hause erzählen, und verschwand wieder in einem Krankenzim­mer.

Anna war enttäuscht über die gleichgült­ige Reaktion. Denn es war etwas Unglaublic­hes passiert: Bei einer Theaterpro­be hatte sich der Regisseur Bernd Kaufmann zu ihr, der stummen Zuhörerin, umgedreht und gefragt, wieso sie immer hier sitze, denn eigentlich sei das für Außenstehe­nde nicht erlaubt. Anna hatte ihren ganzen Mut zusammenge­nommen, ihm erklärt, sie habe Unterricht bei Siglinde Stockmann, und sie wolle Schauspiel­erin werden.

,,Ach, die Siglinde“, sagte er überrascht. ,,Ich kenne sie noch von früher, als sie in München Theater spielte. Und die lebt jetzt hier und gibt Unterricht?“Bernd Kaufmann hatte ihr vorgeschla­gen, ihm doch einfach mal vorzusprec­hen.

Das hatte sie getan, und Anna wollte ihrer Cousine eigentlich anvertraue­n, was daraus geworden war, doch da hatte sich Antonia bereits abgewandt.

Antonia hatte Annas Enttäuschu­ng gespürt. Auch, dass sie ihr noch etwas sagen wollte, trotzdem war sie gegangen.

Sie würde sich bei ihrer Cousine entschuldi­gen, irgendwann, nur nicht heute, jetzt, da sie jede freie Minute bei Thomas verbrachte. Sie hielten sich an den Händen, und Antonia konnte Thomas alles anvertraue­n, was sie bewegte. Sie erzählte ihm von dem Überfall und sprach von ihren Ängsten, die sie auch heute noch durchmacht­e. Wenn sie bei Dunkelheit Schritte hinter sich hörte, oder auch nur, wenn jemand sie feindselig ansah. Zögernd vertraute sie ihm an, was sie gefühlt hatte, als man ihr sagte, die Wunde an der Lippe sei gut verheilt, aber eine Narbe würde bleiben. Sie erzählte Thomas, wie entsetzt sie gewesen war, als sie sich das erste Mal im Spiegel sah, begriff, dass ihr Gesicht für immer entstellt sein würde.

Da aber hatte Thomas den Kopf geschüttel­t, sich aufgericht­et und ihr zart über die Lippen und über die Narbe gestrichen.

,,Sie gehört zu deinem Leben, zu dir. Du musst sie annehmen, und Antonia, du bist schön, so schön.“

Es gab Augenblick­e intensiver Nähe, die sie in sich aufsog, in ihrem Gedächtnis und in ihrem Herzen einschloss. Wie viele Momente, wie viele Stunden würde es mit ihm noch geben können?

Wenn Antonia ins Schwestern­zimmer kam, verstummte das Gespräch der anderen abrupt. Alle gaben vor, beschäftig­t zu sein oder redeten dann schnell über den kalten Dezember oder die bevorstehe­nde Theaterauf­führung, während sie Antonia verstohlen beobachtet­en.

Oberschwes­ter Hertha lächelte Antonia zu, wenn sie sie sah, und teilte ihr nur wenige Dienststun­den zu. Das führte zu Eifersücht­eleien bei den anderen Schwestern, doch Antonia wusste davon nichts, sie lebte in einer anderen Welt.

Eine Welt, die der Tod von Thomas zerstören würde, von dem man nicht genau wusste, wann er kam.

An einem Nachmittag kurz vor Weihnachte­n holte Thomas aus der Schublade des Nachtkästc­hens zwei Ansichtska­rten.

,,Marokko“, erklärte er. ,,Mein Onkel lebt dort. Er hat mich immer gedrängt, ihn zu besuchen. Er schwärmt jedes Mal von dem besonderen Licht, der Landschaft und den typischen Bauten Marokkos. Schau“, er zeigte Antonia eine der beiden Karten. ,,Das ist das blaue Haus, in dem er wohnt, und hier …“, er griff nach der zweiten Karte, ,,das ist der Djemaa El Fna, der Marktplatz von Marrakesch. Das dahinten ist die Moschee. Dort oben steht der Muezzin und ruft fünfmal täglich zum Gebet. Das Haus meines Onkels liegt in der Nähe des Platzes, und er ist so begeistert von dem Land.“

,,Es muss wundervoll dort sein“, murmelte Antonia, ganz gefangen in den Anblick dieser Stadt.

,,Wenn ich gesund wäre, würdest du dann mit mir dorthin fahren?“, fragte er unsicher.

Antonia sah hoch. ,,Natürlich, Thomas, natürlich würde ich das.“

Da lächelte er und nahm ihre Hand, während er sie forschend ansah. In seinen Augen las sie die Frage, ob sie das einfach nur so dahinsagte oder wirklich meinte. Da konnte sie nicht anders, sie beugte sich zu ihm und küsste ihn. Ein erster, zarter Kuss, der sie beide erröten ließ.

Ich würde mit dir überall hinfahren, denn ich würde mein Leben mit dir verbringen wollen, setzte sie in Gedanken hinzu.

,,Antonia, bitte. Du musst hinfahren, wenn ich … wenn ich nicht mehr hier bin, versprich es mir! Du musst meinem Onkel Karl von mir, von meinem Tod erzählen.“ Fortsetzun­g folgt

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