DIE STUNDE UNSERER MÜTTER
68. Fortsetzung
Anna und Antonia begegneten sich nur selten im Krankenhaus. Denn Anna schwänzte oft, erfand Ausreden, wenn sie dazu abkommandiert war, Verbandszeug auszuwaschen oder Bettpfannen zu säubern. Und wenn es irgendwie ging, hielt sie sich im Apothekerhaus auf, um mit Siglinde Stockmann zu arbeiten.
Sie erlernte die richtige Körperhaltung, Atmung und Artikulation. Doch als sie Antonia davon erzählen wollte, war ihre Cousine unkonzentriert, meinte nur, Anna müsse es zu Hause erzählen, und verschwand wieder in einem Krankenzimmer.
Anna war enttäuscht über die gleichgültige Reaktion. Denn es war etwas Unglaubliches passiert: Bei einer Theaterprobe hatte sich der Regisseur Bernd Kaufmann zu ihr, der stummen Zuhörerin, umgedreht und gefragt, wieso sie immer hier sitze, denn eigentlich sei das für Außenstehende nicht erlaubt. Anna hatte ihren ganzen Mut zusammengenommen, ihm erklärt, sie habe Unterricht bei Siglinde Stockmann, und sie wolle Schauspielerin werden.
,,Ach, die Siglinde“, sagte er überrascht. ,,Ich kenne sie noch von früher, als sie in München Theater spielte. Und die lebt jetzt hier und gibt Unterricht?“Bernd Kaufmann hatte ihr vorgeschlagen, ihm doch einfach mal vorzusprechen.
Das hatte sie getan, und Anna wollte ihrer Cousine eigentlich anvertrauen, was daraus geworden war, doch da hatte sich Antonia bereits abgewandt.
Antonia hatte Annas Enttäuschung gespürt. Auch, dass sie ihr noch etwas sagen wollte, trotzdem war sie gegangen.
Sie würde sich bei ihrer Cousine entschuldigen, irgendwann, nur nicht heute, jetzt, da sie jede freie Minute bei Thomas verbrachte. Sie hielten sich an den Händen, und Antonia konnte Thomas alles anvertrauen, was sie bewegte. Sie erzählte ihm von dem Überfall und sprach von ihren Ängsten, die sie auch heute noch durchmachte. Wenn sie bei Dunkelheit Schritte hinter sich hörte, oder auch nur, wenn jemand sie feindselig ansah. Zögernd vertraute sie ihm an, was sie gefühlt hatte, als man ihr sagte, die Wunde an der Lippe sei gut verheilt, aber eine Narbe würde bleiben. Sie erzählte Thomas, wie entsetzt sie gewesen war, als sie sich das erste Mal im Spiegel sah, begriff, dass ihr Gesicht für immer entstellt sein würde.
Da aber hatte Thomas den Kopf geschüttelt, sich aufgerichtet und ihr zart über die Lippen und über die Narbe gestrichen.
,,Sie gehört zu deinem Leben, zu dir. Du musst sie annehmen, und Antonia, du bist schön, so schön.“
Es gab Augenblicke intensiver Nähe, die sie in sich aufsog, in ihrem Gedächtnis und in ihrem Herzen einschloss. Wie viele Momente, wie viele Stunden würde es mit ihm noch geben können?
Wenn Antonia ins Schwesternzimmer kam, verstummte das Gespräch der anderen abrupt. Alle gaben vor, beschäftigt zu sein oder redeten dann schnell über den kalten Dezember oder die bevorstehende Theateraufführung, während sie Antonia verstohlen beobachteten.
Oberschwester Hertha lächelte Antonia zu, wenn sie sie sah, und teilte ihr nur wenige Dienststunden zu. Das führte zu Eifersüchteleien bei den anderen Schwestern, doch Antonia wusste davon nichts, sie lebte in einer anderen Welt.
Eine Welt, die der Tod von Thomas zerstören würde, von dem man nicht genau wusste, wann er kam.
An einem Nachmittag kurz vor Weihnachten holte Thomas aus der Schublade des Nachtkästchens zwei Ansichtskarten.
,,Marokko“, erklärte er. ,,Mein Onkel lebt dort. Er hat mich immer gedrängt, ihn zu besuchen. Er schwärmt jedes Mal von dem besonderen Licht, der Landschaft und den typischen Bauten Marokkos. Schau“, er zeigte Antonia eine der beiden Karten. ,,Das ist das blaue Haus, in dem er wohnt, und hier …“, er griff nach der zweiten Karte, ,,das ist der Djemaa El Fna, der Marktplatz von Marrakesch. Das dahinten ist die Moschee. Dort oben steht der Muezzin und ruft fünfmal täglich zum Gebet. Das Haus meines Onkels liegt in der Nähe des Platzes, und er ist so begeistert von dem Land.“
,,Es muss wundervoll dort sein“, murmelte Antonia, ganz gefangen in den Anblick dieser Stadt.
,,Wenn ich gesund wäre, würdest du dann mit mir dorthin fahren?“, fragte er unsicher.
Antonia sah hoch. ,,Natürlich, Thomas, natürlich würde ich das.“
Da lächelte er und nahm ihre Hand, während er sie forschend ansah. In seinen Augen las sie die Frage, ob sie das einfach nur so dahinsagte oder wirklich meinte. Da konnte sie nicht anders, sie beugte sich zu ihm und küsste ihn. Ein erster, zarter Kuss, der sie beide erröten ließ.
Ich würde mit dir überall hinfahren, denn ich würde mein Leben mit dir verbringen wollen, setzte sie in Gedanken hinzu.
,,Antonia, bitte. Du musst hinfahren, wenn ich … wenn ich nicht mehr hier bin, versprich es mir! Du musst meinem Onkel Karl von mir, von meinem Tod erzählen.“ Fortsetzung folgt