„Die Seele droht Schaden zu nehmen“
Oldenburger Volksmusikerin Sybille Gimon (70) über die Folgen der Isolation in Corona-Zeiten
Die Seele droht Schaden zu nehmen durch die gesellschaftliche Zwangspause in der Corona-Pandemie. Das befürchtet Volksmusikerin Sybille Gimon – die wahre Herausforderung stehe noch bevor.
Frau Gimon, erinnern Sie sich noch an die Zeit des ersten Lockdowns im März 2020? Gimon: Sehr genau. Damals habe nicht nur ich gedacht, dass nach drei Monaten wieder alles überstanden und wieder wie früher sein wird. Dann kamen der Herbst und Winter, es wurde immer schwieriger und dann endgültig zu kalt, um sich noch draußen zum gemeinsamen Singen zu treffen. Die Kontakte sind seitdem immer weniger geworden.
Von wie vielen Sängern und Sängerinnen reden wir? Gimon: Ungefähr 170 insgesamt: In Oldenburg, dem Lopshof und bei Bauer Uwe in Dötlingen sowie in Kirchhatten, wo sich immer der von mir vor zehn Jahren gegründete und preisgekrönte Inklusionschor „OL Inklusive“montags im Deutschen Haus getroffen hat. Wie auch beim gemeinsamen Singen über die VHS Hatten-Wardenburg.
Was hat sich bei Ihnen verändert?
Gimon:
Am Anfang hat es sich
fast wie Urlaub angefühlt. Ich habe die ungewohnte, freie Zeit genutzt, neue Ideen und Lieder zu entwickeln, mir das Ukulelespielen beigebracht. Aber dann habe ich wie viele andere gemerkt: Es bewegt sich nichts zum Besseren. Die regelmäßigen Telefonate, der Austausch, sie wurden immer weniger. Heute treffe ich meine Sänger und Sängerinnen nur noch zufällig beim Spazierengehen. Die erste Frage lautet dann immer: „Wann singen wir endlich wieder zusammen?“
Nun könnte man sich ja auf den Standpunkt stellen: Was sind schon ein, zwei Jahre, wenn danach wieder alles so wird, wie es mal war...
Gimon: Gerade für viele ältere Menschen ist es eine verlorene Zeit. Längst nicht für jeden wird es ein Trost sein, falls im nächsten Jahr wieder gemeinsam gesungen werden darf. Viele der älteren Generation trauen sich dann womöglich nicht mehr, mobil zu sein. Ihre Isolation droht, sich bis zum Lebensende fortzusetzen. Die Seelen drohen, unwiederbringlich
Schaden zu nehmen. Ich plädiere dafür, dass jeder alleinstehende Mensch ohne Familie jetzt eine Patin oder einen Paten an die Seite bekommt. Mit ganz wenig bürokratischem Aufwand, für all die zu bewältigenden Aufgaben des Alltags. Ich erlebe es gerade bei einer Freundin. Wer im Alter nicht mehr fit ist, der bleibt sonst auf der Strecke.
Die großen Firmen und Institutionen scheinen relativ leicht Unterstützung zu bekommen. Die vielen Kleinen, das gilt auch für die Kreativen, eher nicht. Wie denken Sie darüber? Gimon: All die Künstler, Musiker und Musikerinnen auf der ganzen Welt. Was wären wir ohne sie? Sie sind es, die unsere Seelen, unseren Geist und unsere Herzen berühren. Wenn wir sie nicht hätten, wäre unser Leben sowas von trist und ja kaum lebbar. Deshalb ist es so wichtig und unverzichtbar, Musiker und Musikerinnen und die Künstler im allgemeinen dringend zu unterstützen. Gerade jetzt in der Corona-Krise müssen Möglichkeiten geschaffen werden, die Kunst leben zu lassen.
Eine Flugzeugflotte bringt uns von A nach B, aber das Leben, die Lebendigkeit und die Berührung finden wir in der Kunst. Gemeinschaft erzeugt ganz besondere Glücksgefühle, das habe ich auch immer wieder selber erlebt. Ich persönlich glaube nicht an Zufälle, denke spirituell und positiv. Aber auch ich habe mittlerweile Wochen, in denen ich durchhänge. Umso mehr haben mich der Zuspruch und die Unterstützung aus der Musikszene und meiner Nachbarschaft gefreut.
Macht Ihnen der Gedanke an die Zukunft Angst? Gimon: Ich bin 100-prozentig überzeugt, dass der Neustart, der ja irgendwann kommen wird, klappt. Ob aber wirklich alle noch wieder dabei sein
werden, da bin ich längst nicht so sicher. Dabei dürfte die Corona-Pandemie erst ein Vorgeschmack auf die Probleme sein, die die Menschheit wird lösen müssen. Mit der Klimaerwärmung kommt erst noch die wahre Herausforderung auf uns zu.