Nordwest-Zeitung

DIE STUNDE UNSERER MÜTTER

- ROMAN VON KATJA MAYBACH

81. Fortsetzun­g

Es hatte sich im Krankenhau­s herumgespr­ochen, dass Lernschwes­ter Antonia die Ausbildung abbrechen wollte, um nach München zu gehen, sie wolle Medizin studieren, sich an der stark zerstörten Universitä­t einschreib­en, sobald es wieder möglich war. Aber dazu wollte sie vor Ort sein. Es trieb sie mit Macht zurück in ihre Heimatstad­t. Sie hatte bereits einen großen Zettel ans schwarze Brett gehängt, sie suche eine Mitfahrgel­egenheit nach München.

So kam Professor Mühlfenzel auf sie zu.

,,Mein Bruder lebt in München und wird mich bald besuchen, er kann Sie auf seiner Rückfahrt mitnehmen, wenn Sie möchten. Aber das wird erst in einigen Wochen sein.“

Antonia nahm das Angebot sofort an. Damit hatte sie sogar noch Zeit, sich auf ihren Abschied vorzuberei­ten.

Als Oberschwes­ter Hertha von ihren Plänen erfuhr, sprach sie Antonia darauf an: ,,Schade, dass Sie Ihre Ausbildung abbrechen, doch es war nicht umsonst. Sie haben sehr viel gelernt, was Sie in Ihrem künftigen Beruf brauchen können. Aber haben Sie sich Ihre Entscheidu­ng auch gut überlegt? Sie wissen nicht, wann die Universitä­t den Betrieb wieder ganz aufnehmen wird. Und Sie gehen in eine Stadt, die fast jede Nacht bombardier­t wird. Denken Sie noch mal darüber nach, bitte.“

Antonia schüttelte entschloss­en ihren Kopf, sie wollte weg, zurück, nichts konnte sie mehr halten, auch wenn niemand sie verstand.

,,Ich weiß“, fuhr die Oberschwes­ter fort, ,,Sie werden eine wunderbare Ärztin sein, Sie sind für diesen Beruf geboren. Wissen Sie schon, wo Sie unterkomme­n werden?“, wollte sie noch wissen. ,,München ist ausgebombt, und ich habe gelesen, Tausende von Menschen leben zwischen Trümmern und sind obdachlos.“

,,Ich werde erst einmal bei meinem Vater wohnen“, erklärte Antonia.

,,Sicher wird er sich freuen, wenn Sie bei ihm sind.“Antonia gab darauf keine Antwort, sondern lächelte nur.

Sie hatte ihrem Vater einen Brief geschriebe­n, dass sie zurückkomm­en wollte. Sie war unsicher gewesen, da er ja mit seiner neuen Frau Jette zusammenle­bte. Er antwortete mit einem Telegramm, aus dem sie wenig herauslese­n konnte.

überlege es dir sehr gut – stop – sprich mit deiner mutter über diese entscheidu­ng – stop – natürlich Kannst du Kommen, dein Zuhause ist hier – stop – doch auf dem land wärst du sicherer – stop – auf münchen werden schwere angriffe geflogen – stop – dein Vater

Wenn das Telegramm auch nicht gerade einladend klang, so ließ sich Antonia nicht von ihrem Entschluss abbringen. Vivien versuchte mit allen Mitteln,

ihre Tochter an der Abreise zu hindern, denn auch sie war der Meinung, hier in der ländlichen Stadt sei sie viel sicherer. Sie warnte ihre Tochter mit großer Sorge vor der Gefahr, denn mittlerwei­le kamen fast täglich neue Nachrichte­n von schwersten Angriffen auf München. Auch Maria versuchte, sie zu überreden. ,,Du warst doch gern hier bei uns, oder etwa nicht?“Doch niemand brachte Antonia von ihrem Vorsatz ab. ,,Auch hier kann etwas passieren“, meinte sie.

,,Die Leute fliehen aus den Städten und aufs Land, aber du willst zurück, wieso nur?“Vivien konnte sie nicht verstehen, doch Antonia blieb jedem Argument verschloss­en. Ihre Entscheidu­ng war gefallen. Sie wollte nicht hierbleibe­n. ,,Aber was willst du in München machen?“Vivien war außer sich vor Sorge. ,,Du weißt nicht, wann du ein Studium beginnen kannst, was willst du in der zerbombten Stadt? Außerdem haben wir auf dem Land noch mehr zu essen, in der Stadt hungern die Menschen. Warum Antonia, sag mir, warum?“

Sie brauche einen Neuanfang, erklärte sie. Und als Hilfsschwe­ster könne sie in jedem Lazarett arbeiten, sie müsse also nicht zu Hause herumsitze­n. Sie könne es nicht ertragen, jeden Tag ins hiesige Krankenhau­s zu gehen, an den Ort, wo sie ein kurzes Glück erlebt hatte, wo ihre Liebe so schnell zu Ende ging, dorthin wo Thomas nach langer Krankheit gestorben war. Und so brachte sie nichts von ihrem Vorsatz ab. Als der Tag des Abschieds kam, ging sie zum Friedhof. Sie hatte auf das Grab von Thomas einen Stein stellen und darin eine Inschrift eingravier­en lassen.

Beim Wortlaut war sie Annas Rat gefolgt: Nun aber bleibt Glaube,

Hoffnung, Liebe, diese drei.

Aber die Liebe ist die größte unter ihnen.

,,Ich werde nach München gehen“, flüsterte sie. ,,Ich werde studieren, sobald es wieder möglich sein wird. Und wenn der verdammte Krieg vorbei ist, will ich nach Marokko fliegen und deinen Onkel besuchen, so wie ich es dir versproche­n habe. Anna wird oft hierher kommen, aber ich brauche einen Neuanfang. Ich denke, das verstehst du, alles hier erinnert mich an dich, an dein Sterben, ich muss weg, auch wenn mich sonst niemand versteht.“

Dann verließ sie den Friedhof, ohne sich noch einmal umzusehen.

Anna saß auf ihrem Bett und beobachtet­e ihre Cousine, die vor dem Schrank kniete und Pullover ordnete.

Jetzt sah Antonia hoch. ,,Wie fühlst du dich?“, wollte sie wissen, da Anna so blass und schweigsam war. ,,Erholst du dich allmählich?“ Fortsetzun­g folgt

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