WIR SEHEN UNS UNTER DEN LINDEN
29. Fortsetzung
In der Silvesternacht hatte sie mit Alfred Braun von der Funk-Stunde Berlin in der oberen Etage auf dem Balkon gestanden und nach seiner Ansprache mit einem Lied das neue Jahr begrüßt:
,,Glück, das mir verblieb, Rück zu mir, mein treues Lieb. Abend sinkt im Hag,
Bist mir Licht und Tag.“
Das Lied war unglaublich schön, fand Ilo. Es stammte aus Erich Korngolds Oper Die
tote Stadt, doch das Berlin, das zu ihren Füßen lag, in dessen Schnee sich glitzernd die Leuchtreklamen spiegelten, war eine Stadt voller Leben, und ihre ganze Zukunft, jeder Tag, den sie vor sich hatten, schien mit zu glitzern. Nie zuvor hatte Ilo einen Auftritt so genossen. Es war kein verkleidetes Puszta-Püppchen, das sang, keine künstlich berlinernde Göre, keine wie der Sarotti-Mohr gewandete angebliche Sultanstochter, sondern sie selbst, Ilona, die Ton um Ton für ihren Volker sang: Bist mir Licht und Tag.
Unten waren die Menschen stehen geblieben und hatten ihr lange applaudiert, ehe sie sich über die Linden, deren Lichter langsam verblassten, zerstreuten und Volker und Ilo ihrem eigenen Gruß für das neue Jahr überließen.
Es war vielleicht ihre glücklichste Nacht gewesen, eine in einer Kette aus glücklichen Nächten, die nie abriss. So seltsam war das: Ihr Bund schien ringsum nur Missfallen und Bedenken, erhobene Brauen und Gezeter auszulösen. Seine Schwester, ihre Mutter, Eugen, alle sahen ihr persönliches Unglück darin, dass Ilo Konya und Volker Engel sich gefunden hatten. In ihrem Weg häuften sich Steine. Doch wenn sie zusammen waren, erschien alles nur noch halb so schwierig, dann höchstens noch zu einem
Viertel schwierig, dann zu einem Achtel, und schließlich vergaßen sie die Schwierigkeiten ganz.
So wie Schnuffeken, fiel ihr ein. Volkers Schwester konnte sich vor Kummer die Augen ausweinen, doch wenn nur jemand ein freundliches Wort an sie richtete, vergaß sie alles und brach vor Lebensfreude in Gelächter aus. Schnuffeken war auch die Einzige, die in der Liebe zwischen Volker und Ilo keine Katastrophe sah. Sie hatte Ilo sofort in ihr Herz geschlossen, und sooft sie Hiltruds eifersüchtiger Bewachung entfliehen konnte, lief sie zu ihr und warf sich ihr in die Arme.
Volker legte die Gabel nieder und nahm ihre Hände. ,,Was war das denn?“, fragte er mit einem Lächeln in der Stimme. ,,Du warst auf einmal meilenweit weg.“
,,Oh, entschuldige. Nein, meilenweit weg war ich nicht, nur eine Etage höher und vier Monate zurück. Ich hab an Neujahr denken müssen und mich in der Erinnerung wohl verlaufen.“
,,Du siehst schön aus,wenn du dich in der Erinnerung verläufst“, sagte Volker. ,,Du siehst immer schön aus, in der Neujahrsnacht, als du gesungen hast, am schönsten. Oder heute am schönsten. Oder ach, ich weiß es nicht. Früher habe ich gedacht, es sollte doch Männern nicht so wichtig sein, ob Frauen schön sind, aber du …“
,,Mir ist es wichtig, dass du mich schön findest“, rief Ilo, nahm ihm die Brille ab, an der etwas von der Apfelkuchendecke klebte, und gab einem seiner Augen einen raschen Kuss. ,,Ich finde dich ja auch schön. Sogar dein komisches Hemd.“Sie zupfte an einer der zu langen Kragenecken. ,,Sag mir, musst du jetzt gleich wieder weg? Warten deine Genossen bei eurem Köpernitz auf dich?“
,,Bei Küpertz? Ja, sie warten sozusagen. Du weißt ja, dass wir uns immer donnerstags treffen, um die Artikel für die Zeitung und die Aktionen für die nächste Woche zu besprechen. Aber es ist ja alles so friedlich zurzeit, es geht so schön voran, fast könnte es einem vorkommen, als hättest du sogar uns in der Partei Glück gebracht. Ich habe mir gedacht, vielleicht lasse ich heute einmal ein Treffen ausfallen. Gustav und Erich planen, über das Geleit zu reden, mit dem wir den Genossen in der Künstlerkolonie zu Hilfe kommen wollen. Dort drüben sind wieder einmal die Nazis zugange, und du weißt ja, bei so etwas können sie mich nicht so richtig gebrauchen.“
Mit ,,so etwas“war eine Saalschlacht gemeint, genauer eine wilde Schlägerei, bei der das Mobiliar einer Kneipe zu Bruch ging und nur wenige mit blauen Augen davonkamen. In der vor zwei Jahren eröffneten Künstlerkolonie in Wilmersdorf wohnten Schriftsteller, Maler, Komponisten und Schauspieler, die von der Hand in den Mund lebten und über die billigen Quartiere froh waren. Ilo kannte selbst Kollegen, die dort hingezogen waren, doch ehe sie Volker begegnet war, hatte Ilo darüber nie nachgedacht. Die Kolonie lag wie eingepfropft mitten in einem zutiefst bürgerlichen, konservativen Bezirk, dessen Bürger sich mit den linken Bohemiens in ihrer gehobenen Wohngegend nicht anfreunden mochten.
Da aber die bürgerlichen Parteien die Wahlen des letzten Jahres verloren hatten und seither ein Sozialdemokrat die Regierungskoalition anführte, wurde die Kolonie sogar noch erweitert. Die meisten Proteste dagegen verliefen zivil, doch eine Splitterpartei, die sich ausschließlich durch Gewalt und Geschrei hervortat, wollte sich damit nicht begnügen.
Fortsetzung folgt