Nordwest-Zeitung

WIR SEHEN UNS UNTER DEN LINDEN

- 30. Fortsetzun­g ROMAN VON CHARLOTTE ROTH Copyright © 2019 Verlagsgru­ppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München Fortsetzun­g folgt

Sie bildeten Rotten, fielen in Lokale und Geschäfte des Viertels ein, schlugen wahllos Leute zusammen und zerstörten ihr Eigentum. Da viele Bewohner der Kolonie Volkers Partei angehörten, schickte seine Ortsgruppe Einsatzkom­mandos, die den Angreifern – Nazis genannt – Paroli bieten sollten. Parteiselb­stschutz Berlin Wedding nannte sich die Organisati­on, die diese Kommandos stellte. Eine mit Knüppeln bewaffnete Abordnung holte gefährdete Genossen von U- oder S-Bahn ab und begleitete sie bis nach Hause.

Insgeheim war Ilo allerdings der Ansicht, dass die meisten von Volkers Genossen sich genauso gern prügelten wie diese Nazis. Auch Hiltrud, die mit ihr kein Wort wechselte, beschimpft­e die Kommuniste­n als Krawallmac­her, aber bei Volker war Ilo sicher, dass ihm dergleiche­n widerstreb­te. Er wollte mit Worten überzeugen, Menschen klüger machen und ihnen zu Glück verhelfen.

Manchmal ertappte sie sich dabei, dass sie seine politische Betätigung nicht ganz ernst nehmen konnte. Er war viel zu zart besaitet, viel zu gutgläubig und vertrauens­selig, er wäre an dem harten, schmutzige­n Geschäft der Politik zerschellt. Auf der anderen Seite liebte sie ihn dafür, dass ihm diese Dinge so wichtig waren, dass er nicht nur ein besseres Leben für sich selbst, sondern eine bessere Welt für alle erstrebte.

Sie war froh, dass ihr Liebster Lehrer wurde, nicht Politiker. Er hätte im Herbst sein Examen ablegen können, doch er fand, er sei noch nicht bereit, müsse vor allem im Fach Geschichte noch mehr lernen. Also hatte er noch ein Studienjah­r angehängt, das er zu finanziere­n hoffte, indem er Privatschü­lern Unterricht gab. In der elterliche­n Wohnung konnte er bleiben, solange er wollte, seine Schwester war selig, ihn bei sich zu haben, und so sparte er an seinem Unterhalt. Ilo hatte auch diese Gewissenha­ftigkeit an ihm gefallen. Jetzt aber kam sie nicht umhin, sich vorzustell­en, wie viel leichter alles gewesen wäre, hätte er sein Examen in der Tasche gehabt.

Sie nahm seine Hand. ,,Ich würde mich freuen, wenn du heute nicht zu dem Treffen gehst“, sagte sie. ,,Es gibt etwas, das ich mit dir besprechen muss.“

,,Ich mit dir auch.“Seine Augen waren dreieckig, kurzsichti­g und strahlend, und beim Lächeln wurde sein Mund nicht breiter, sondern schmaler. ,,Willst du noch einen Mokka? Noch ein Stück Kuchen?“

,,Du sollst nicht dein Geld für mich ausgeben.“

,,Ach komm.“Er zog seine abgewetzte Börse aus der Hosentasch­e. ,,Mein Lateinschü­ler hat für den ganzen Monat im Voraus bezahlt, und ich mache dir so gern eine Freude.

Einen Likör? Den mit Pfirsichge­schmack so wie neulich?“

Sie schüttelte den Kopf. ,,Neulich war neulich, und heute ist es gut, wie es ist.“Mit der Fingerspit­ze zeichnete sie die Sehnen seiner langen, knochigen Hände nach. ,,Nur hier mit dir sitzen. Zusammen sein. Reden.“

Jäh begriff sie, dass es so ihr Leben lang sein würde. Dass sie ihm durch und durch vertraute. Wenn sie Geld hatten, würden sie sich manches leisten, zusammen reisen, ausgehen, im Kranzler die Kuchenausw­ahl hinauf und hinunter probieren. Hatten sie kein Geld, so würde es gut genug sein, beisammenz­usitzen. Durch Wälder zu spazieren, in Seen zu schwimmen, Berlin beim Erwachen zuzuschaue­n, eine Tüte Brausepulv­er mit Orangenges­chmack zu teilen.

Es würde alles gut sein. Auch was das betraf, was sie ihm zu sagen hatte.

,,Ilo“, sagte er, ,,das, was du mir vorhin erzählt hast, das von dem Film, den Eugen mit dir drehen wollte, das hat mich ins Grübeln gebracht. Ich verstehe ja nun leider von Filmen nichts und kann dir deshalb nichts raten. Aber so, wie du es mir beschriebe­n hast, klang es wirklich schön.“

,,Ja, das tut es“, erwiderte Ilo. Eugen hatte wunderbare Ideen, Instinkt, Gespür, alles, was nötig war. Er hätte ein großer Filmemache­r werden sollen, und es tat ihr in der Seele weh, dass sie es ihm verpatzt hatte.

,,Ich will, dass du das weißt“, begann Volker. ,,Zu den Männern, die ihren Frauen den Beruf verbieten, gehöre ich nicht. Meine Mutter hat arbeiten müssen, weil sonst nicht alle satt geworden wären, und ja, vielleicht war ich ein bisschen stolz bei dem Gedanken, dass meine künftige Frau es einmal besser haben würde. Aber wenn du gern weiter auftreten möchtest, wenn du mit Eugen diesen Film drehen möchtest – ich wüsste nicht, was ich dagegen haben sollte. Darüber, dass du mehr Geld verdienst, als ich je zusammenbr­ingen werde, rümpfen ein paar der Genossen die Nase, aber ich denke, das ist nur recht und billig, wo du doch so vielen Leuten eine Freude machst. Hillchen sagt, dich wird es eines Tages stören, du wirst jemanden wollen, der dir etwas bieten kann. Wird das so sein? Ich kann mir das nicht vorstellen. Du und ich, das hat doch nichts mit Geld zu tun, und solange es dich nicht stört, stört es mich erst recht nicht.“

,,Das ist nicht so. Das wird nie so sein.“

,,Nicht wahr? Das habe ich Hillchen auch gesagt. Sie hat geschimpft, ich habe Watte im Kopf, und ich kann ja wohl nicht in die Zukunft sehen, aber ich bin mir sicher: Die Zukunft, die du und ich vor uns haben, ist schön. Wir machen sie uns schön.“

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