Nordwest-Zeitung

WIR SEHEN UNS UNTER DEN LINDEN

- ROMAN VON CHARLOTTE ROTH

31. Fortsetzun­g

,,Ja, Volker. Wir machen sie uns schön.“

,,Und wirst du mit Eugen diesen Film drehen – über die Leute, die Unter den Linden spazieren gehen?“

,,Nein, das werde ich nicht. Es ist nicht das, was ich will. Ich bin gar keine Schauspiel­erin, egal, was alle Welt redet. Von klein auf habe ich immer eine andere sein müssen, in eine andere Haut schlüpfen. Vielen Leuten macht das gewaltigen Spaß – meiner Mutter, Eugen, Marika, Sido, ich bin umgeben von Leuten, denen es Spaß macht. Aber mir macht es keinen Spaß. Ich hatte keine Zeit, mich selbst kennenzule­rnen, und seit ich mir durch dich begegnet bin, stecke ich viel zu gern in meiner eigenen Haut.“

Er drehte ihre Hand um und küsste sie genau in die Mitte der Handfläche, in die kleine Grube, die weich und voller Empfindung war. ,,Ich will, dass du in deiner Haut steckst und keine andere bist.

Eine andere könnte ich nicht einmal halb so lieb haben. Auch nicht, wenn sie so schön ist wie du, und auch nicht, wenn ich mir Mühe gebe.“

Sie lachte. ,,Die andere hätte dich ja auch nicht mal halb so lieb. Schicken wir die anderen dahin, wo der Pfeffer wächst, ja?“

Ihre Augen lachten sich an. ,,Als die Funk-Stunde mich für diese Silvesterü­bertragung engagiert hat, habe ich gemerkt, dass es das ist, was ich will“, fuhr Ilo fort. ,,Singen. Ich weiß, für die Opernbühne reicht es bei mir nicht, aber wenn ich ein Lied singe, das ich selbst in mir spüre, eines wie das von Korngold, dann kann ich Menschen erreichen. Verstehst du, was ich meine?“

Volker rieb sich die Stirn. ,,Ich fürchte, nicht. Aber ich mag es, wenn du das Lied von Korngold singst. Und mich erreichst du damit.“

,,Ich habe mir überlegt, ob ich nicht Eugen anbieten soll, in diesem einen Film für ihn zu spielen“, sagte Ilo, die sich mit jedem Wort glückliche­r fühlte,trotz all dem Schweren, das noch vor ihnen lag. ,,Um ihm die Tür zu öffnen, denn wenn er einmal den Fuß drinnen hat, schafft er den Rest allein. Ich habe mir auch überlegt, ob ich die nächste Saison nicht noch in der Revue im Schauspiel­haus spielen sollte, damit Marika mehr Zeit hat zu zeigen, was sie kann.“

In die Pause, die sie machte, sagte Volker: ,,Ich finde, das ist eine gute Idee. Du bist so nett, du würdest niemanden gern im Stich lassen. Bring alles zu einem guten Abschluss. Und hinterher bist du nur noch du, und ich bin ich, wir treffen uns Unter den Linden, und du singst: Glück, das mir verblieb.“

Das Herz in Ilos Brust wurde ein kleines Tier, das Sprünge vollführte. Für jedes Wort, jeden Blick, jede Berührung einen Freudenspr­ung. Zugleich

schämte sie sich, weil sie die anderen nun eben doch im Stich lassen würde, und war traurig, weil sie wusste: Weder ihre Mutter noch ihre Schwester würden ihr verzeihen, und ihr Vater und Felix würden gegen das, was die Mutter bestimmte, nicht aufbegehre­n. Sie würde ihre Familie verlieren. Und konnte trotzdem nichts anderes als glücklich sein.

,,Ich hätte es gern so gemacht“, sagte sie. ,,Wenn man selbst so viel geschenkt bekommt, will man denen, die man lieb hat, auch etwas schenken, nicht wahr? Aber es geht nun einmal nicht. Ich kann es so, wie ich es gewollt hätte, nicht machen.“

,,Warum denn nicht, mein Alleraller­liebstes?“

,,Weil es eben nicht geht. Weil ich ein Kind krieg, Volker.

Wir haben jetzt für drei zu denken und für drei zu sorgen. Für dich und mich und das Kind.“

Zweiter Teil Juni 1952

,,Ja, was wird aus unseren Träumen

In diesem zerrissene­n Land? Die Wunden wollen nicht zugeh’n Unter dem Dreckverba­nd.“

Wolf Biermann, Als wir ans Ufer kamen

7

Der Saal hatte etwas von einem Fest aus verlorener Zeit, von der sich kein Mensch mehr sicher war, ob sie je wirklich existiert hatte. Das Parkett hätte ewig gebohnert, das Mobiliar poliert und die Spinnweben in den Winkeln der deckenhohe­n Fenster entfernt werden können, ohne dass der Raum seine angestaubt­e Müdigkeit verloren hätte, seine Gestrigkei­t, seinen verblichen­en Glanz. Sanne fiel das Atmen schwer. Als laste die Vergangenh­eit des Raumes, die niemand erwähnte, mit ihrem ganzen Gewicht auf ihrer Brust.

Sie saß in der dritten Reihe. Der gesamte vordere Block war für Absolvente­n und ihre Angehörige­n reserviert und so gut wie voll besetzt. Lediglich die beiden Plätze zu ihrer Linken, die ihrer Familie zugedacht waren, und eine Reihe von dreien ganz vorn waren leer. Sanne gab sich Mühe, nicht enttäuscht zu sein.Dass Hille nicht konnte, so gern sie gekommen wäre, hatte sie gewusst, doch wenn sie ehrlich zu sich selbst war, hatte sie mit Eugen gerechnet. Sie hatte ihm gesagt, er solle sich die Mühe sparen, sie wisse, wie viel er um die Ohren habe,und der ganze Unsinn mit der Zeremonie sei ihr nicht wichtig. Er war es, der widersproc­hen und beteuert hatte, er könne sich wenig vorstellen, das ihm wichtiger wäre.

Etwas von dem wenigen musste ihm dazwischen­gekommen sein. Fortsetzun­g folgt

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