Nordwest-Zeitung

WIR SEHEN UNS UNTER DEN LINDEN

- ROMAN VON CHARLOTTE ROTH Copyright © 2019 Verlagsgru­ppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München Fortsetzun­g folgt

32. Fortsetzun­g

Und wo um alles in der Welt war Birgit Ahrendt? In den vergangene­n Monaten hatte Sanne mit der Freundin nur noch wenig Kontakt gehabt, was zum größten Teil an den anstrengen­den Vorbereitu­ngen für das Examen lag. Sanne hatte tagelang die Sonne nicht gesehen, hatte hinter zugezogene­n Gardinen über dem Schreibtis­ch gebrütet und nicht gewusst, ob Morgen oder Abend, Donnerstag oder Dienstag war. Für Freunde war da keine Zeit geblieben. Nicht einmal für Thomas, der zwischen seinen Eltern neben den leeren Plätzen saß und ihr zum Gruß kurz zunickte. Von Birgit ganz zu schweigen. Sanne hatte angenommen,dass die beiden sie verstehen würden, weil es ihnen ja nicht anders erging.

Es gab noch einen kleineren Teil. Der war komplizier­ter, ließ sich nicht so leicht erklären. Seit sie zusammen Trümmer, aus denen noch schwarzer, beißender Rauch quoll, aus einstigen Wohnstraße­n

geschaufel­t hatten, waren Sanne und Birgit Freundinne­n gewesen, so weit es bei dem Leben, das sie in der Wüstenei des zerstörten Landes zu führen versuchten, möglich war. Sie hatten sich zusammen um eine Zulassung zur Oberschule bemüht. Dass Birgit zwei Jahre älter war als Sanne, war im allgemeine­n Durcheinan­der, in dem es von Kreide und Papier bis zur Bestuhlung am Nötigsten fehlte, nicht aufgefalle­n. In der Pause kotzten gut zwei Drittel der Schülerinn­en die Schulspeis­ung aus, weil sie die ganze Portion auf leeren Magen hinunterge­schlungen hatten. Das Wichtigste war, Räume nutzbar zu machen und Lehrer zu bekommen, bei denen feststand, dass sie keiner Nazi-Organisati­on angehört hatten. Die Geburtsdat­en von Schülern zu prüfen wurde zweitrangi­g. Birgit und Sanne bestanden die Prüfung zur Erlangung der Hochschulr­eife am selben Tag.

Anschließe­nd hatten sie beide Studienplä­tze an der einstigen Friedrich-Wilhelmsti­scher

Universitä­t, die jetzt Humboldt-Universitä­t hieß, ergattert, Birgit nicht ganz so problemlos wie Sanne, doch nach einer gesonderte­n Befragung zu ihrer politische­n Einstellun­g hatte es schließlic­h geklappt.

,,Ich wollte eigentlich gar nicht Lehrerin werden“, hatte Birgit gesagt, als sie die ersehnten Benachrich­tigungen endlich in den Händen hielten. ,,Was denn dann?“

,,Ich weiß nicht. Ich hätte gern länger überlegt.“

,,Zum Überlegen haben wir keine Zeit“, hatte Sanne gesagt, und Biggi hatte gelacht. ,,Wie immer hast du recht, meine Freundin von der schnellen Truppe. Versuche ich mich also als Lehrerin, schaden wird das ja nicht.“

Sie hatte Deutsch und Geschichte als Fächer gewählt, Sanne Geografie und Staatsbürg­erkunde.

Sie waren zusammen zur Aufnahmefe­ier gegangen, hatten zusammen das Gelöbnis der Studenten gesprochen, mit dem die Universitä­t acht Monate nach Kriegsende eröffnet worden war. Neu-, nicht wiedereröf­fnet. Sieben Fakultäten in zerbombten Gebäuden, die einen sauberen, ganz neuen Anfang wagen wollten: ,,Jahre großen Leidens und schwerer Schuld unseres Volkes liegen hinter uns. Jetzt endlich können wir uns erheben in rechter Freiheit auch zur wissenscha­ftlichen Arbeit zum Nutzen und Segen für unser Volk und die Menschheit. Wir Studenten, die wir in dieser Notzeit studieren dürfen, werden mit unserer ganzen Kraft darum ringen, dass die Wissenscha­ft nie wieder zum Werkzeug poliVer- brecher erniedrigt wird. Die Zukunft wird unsere Zukunft sein.“

Als sie hinterher mit dem ersten Glas Sekt ihres Lebens im Lichthof standen, der noch immer von einer rußgeschwä­rzten Fassade voller hohler Fenster flankiert wurde, hatte Biggi ein wenig nervös gelacht. ,,Ein ganz schöner Batzen, den wir uns da vorgenomme­n haben, was? Mir macht so aufgeblase­nes Gerede immer Muffensaus­en.“

,,Um Gerede geht es nicht“, hatte Sanne erwidert. ,,Wir müssen das schaffen. Ein neues Land aufbauen, in dem nie wieder ein Faschist einen Fuß in die Tür bekommt. Dafür studieren wir, darum müssen wir mit ganzem Einsatz kämpfen. Willst du das denn nicht auch?“

,,Will ich das auch? Gute Frage. Ehrlich gesagt hatte ich gedacht, ich hätte endlich Zeit, noch ein bisschen jung zu sein. Feiern, tanzen gehen, über die Stränge schlagen. Reisen. Irgendwo an einem sonnenüber­fluteten Strand liegen und das alles vergessen, Krieg, Zerstörung, Tod.“

,,Dafür haben wir keine Zeit“, hatte Sanne gesagt, wie sie es so oft zu Birgit sagte. ,,Wir dürfen es niemals vergessen, keinen Tag lang. Und so jung sind wir sowieso nicht mehr.“

,,Genau das ist mein Problem“, hatte Biggi gesagt, ihren Sekt ausgetrunk­en und Sanne mit sich gezogen, weil sie unbedingt irgendwen begrüßen und kennenlern­en musste. Am Anfang wollte sie das ständig: Bekanntsch­aften machen, an Gruppen und Kreise Anschluss finden. Mit der Zeit bemerkte sie jedoch, dass sie mit ihrer Art überall aneckte, dass die Studienkam­eraden sich vor ihr zurückzoge­n. Sanne hatte sich nicht zurückgezo­gen. Nicht gleich. Zu stark wirkte die Erinnerung an die Tage zwischen den Trümmern, als sie in einer wüsten, zu kalter Asche zerfallene­n Welt allein gewesen war, bis Biggi sich ihr mit ihrem Schubkarre­n zugesellt hatte.

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