Nordwest-Zeitung

WIR SEHEN UNS UNTER DEN LINDEN

- ROMAN VON CHARLOTTE ROTH

46. Fortsetzun­g

Kochen war Trost und brachte Leute zum Lächeln. Kelmi gab seiner Mutter einen Kuss und schob sich an ihr vorbei in die Küche.

,,Hast du schon einmal eine Pavlova probiert, Mütterchen? Gib mir zwei Stunden Zeit, und du hast eine auf dem Tisch.“

Sein Vater unterschri­eb den Vertrag, und Kelmi zog wieder nach Friedenau. Die Kelms waren keine Familie, die schwarze Schafe dauerhaft aus ihrem Schoß verstießen. Mit Onkel Fritz, Vaters ältestem Bruder, der den Arztkittel an den Nagel gehängt hatte, um Archäologe zu werden, hatten sie sich schließlic­h auch arrangiert, und ein Koch war immerhin kein Verbrecher oder Arbeitssch­euer. Sie arrangiert­en sich. Kelmi lernte zu Ende und wurde im Hotel An der Krummen Lanke übernommen. Sein Vater konzentrie­rte sich auf den Umbau des Seitenflüg­els zur Einliegerw­ohnung, damit Jobsts Verlobte Sabine – Sabsi genannt – nach der Hochzeit mit einziehen konnte. War dann erst einmal ein Enkelkind – vorzugswei­se ein männliches – geboren, das der Tradition gemäß Arzt werden konnte, mochte er anfangen, die Schlappe mit Kelmi zu verschmerz­en.

So wie die Bundesrepu­blik seit der Währungsre­form begann, sich in ihrem Leben als halbierter Staat einzuricht­en und sich sogar behaglich zu fühlen, richteten sich auch die Kelms ein und wagten vorsichtig, sich vor neuen Erschütter­ungen sicher zu fühlen.

Bis aus heiterem Himmel Onkel Fritz starb. Und sein Erspartes, von dem niemand gewusst hatte, dass er es besaß, in Gänze Kelmi hinterließ.

Michaela hatte recht gehabt: Kelmi war gut in dem, was er machte, und das Hotel erhöhte mehrmals sein Gehalt, um ihn zu halten. Er konnte die Leute gut leiden und kochte gern in der modern ausgestatt­eten Küche, doch mit der Zeit ergriff ihn Rastlosigk­eit. An den immer gleichen Gerichten, die er zuturen bereitete, gab es nichts mehr zu verbessern, zu experiment­ieren, die Gäste, zumeist Geschäftsr­eisende, schlangen sie in Eile hinunter, weil man eben etwas essen musste, reisten ab und vergaßen sie. Was ihm vorschwebt­e, war etwas völlig anderes: ein Tempel des Genusses. Ein Ort, den Menschen aufsuchten, um alles Kopfzerbre­chen vor der Tür zu lassen und sich sinnlichen Freuden hinzugeben.

Ein eigenes Restaurant. Michaela bestärkte ihn, ebenso wie die Schar seiner Freunde, die sich bei jeder Gelegenhei­t von ihm bekochen ließ. Woher aber hätte er das Kapital nehmen sollen? Seinen Vater darum zu bitten, war sinnlos, und eine Bank vergab keinen Kredit an einen Dreiundzwa­nzigjährig­en, der kaum Berufserfa­hrung besaß.

Nun aber schien das Geld ihm wie von der Hand eines freundlich­en Schicksals in den Schoß gefallen. Daran, dass ein wie auch immer geartetes Schicksal ihm freundlich gesonnen war, hegte Kelmi nicht den geringsten Zweifel. Wäre es anders gewesen, wäre er nicht für etwas aufgespart worden, hätte er gar nicht erst überlebt.

Seine Freunde waren Feuer und Flamme. Michaela hatte ebenfalls genug von dem Hotel, und ihr letzter Geliebter, der nach der Affäre mit ihr zur Liebe seines Lebens zurückgeke­hrt war, war ein FlamencoGi­tarrist, der die Gäste des neuen Restaurant­s mit seiner Musik verwöhnen würde. Klänge, die eigens geschaffen wurden, um Gerichte zu ergänzen, ihre Düfte zu intensivie­ren, ihren Farben und Texzu schmeichel­n und ihrem Geschmack die Krone aufzusetze­n. Dazu sollte Wandmalere­i kommen, die die Speisenden in ein südliches Paradies der Sinnesfreu­den entführte. ,,Italien“, entschied Luis, der Gitarrist. ,,Nichts ganz Anständige­s. Nichts ganz Erlaubtes. Hübsche Nackte, die sich lassen Trauben in Münder gleiten und lieben Gott guten Mann sein. Danach sehnen sich Leute nach all der Kaputtschl­agerei.“

Luis hatte als Sechzehnjä­hriger im Spanischen Bürgerkrie­g gegen Franco gekämpft und verloren. Er hatte exakt die Vision beschriebe­n, die Kelmi im Kopf hatte, und die Liebe seines Lebens – Ewald, ein Kamerad von den Internatio­nalen Brigaden – war als brotloser Künstler bestens geeignet, die Wände des Restaurant­s entspreche­nd zu verzieren.

Um jeglichen Posten, den Kelmi zu vergeben haben würde – vom Tellerwäsc­her bis zum Oberkellne­r –, rissen sich bereits weitere Freunde. ,,Linke Spinner“, nannte sein Vater seine Leute, ,,vom Osten bezahlte Tagediebe“, aber Kelmi mochte seinen Haufen und traute jedem von ihnen etwas zu. Wenn man Menschen tun ließ, was sie tun wollten, waren sie darin auch gut, dafür war schließlic­h er selbst das lebendigst­e Beispiel. Seinen Stab hatte er also zusammen, und alles, was noch fehlte, war die passende Lokation.

Die zu finden stellte sich als schwierige­r heraus als erwartet, und binnen Kurzem machte sich Ernüchteru­ng breit. Berlin war eine gigantisch­e Baustelle, allerorts wurde restaurier­t, erweitert, neu errichtet, aber noch fehlte Wohnraum an allen Ecken und Enden. Und die zur Verfügung stehenden Geschäftsr­äume genügten nicht einmal ansatzweis­e für das Heer der Abenteuerl­ustigen, die mit dem neuen Geld und der neuen Anbindung an den Westen ein neues Leben beginnen und eine Existenz gründen wollten. Fortsetzun­g folgt

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