Nordwest-Zeitung

WIR SEHEN UNS UNTER DEN LINDEN

- ROMAN VON CHARLOTTE ROTH Copyright © 2019 Verlagsgru­ppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München

73. Fortsetzun­g

,,Weißt du was, Volker Engel?“, fragte Sidonie. ,,Meine Freundin Ilona hat eine ganze Menge bemerkensw­erter Dinge in ihrem erst kurzen Leben zustande gebracht, aber du bist ihr Geniestrei­ch. Ich weiß nicht, was ich anfangen würde, wenn ich keine Freunde wie euch hätte.“

Hiltrud begriff. Sidonie Terbruggen war Jüdin. In einem Lokal zu sitzen war für Juden kein Vergnügen mehr, selbst dort nicht, wo sie noch Einlass fanden.

Ihr Mann verzog den Mund. ,,Mit Dosenpfirs­ichen verpanscht­er Wein? Und das muss wirklich sein?“

Sie lachten alle. Ilona stieß Eugen den Ellbogen in die Seite.

,,Ehe dein zarter Magen von meiner Bowle Krämpfe bekommt, borge ich mir von Greeve, dem Suffkopf, eine Tasse Korn.“

Das wäre sträfliche­r Leichtsinn gewesen. Dieser Blockwart Greeve war hinterhält­ig.

Er beobachtet­e jede Wohnung, schrieb sich auf, wer hineinund hinausging, und hatte neulich erst im Treppenhau­s geprahlt, er habe ein Ehepaar im Hinterhaus als Judenfreun­de gemeldet, weil dort ein Mann mit krummer Nase und jüdischem Käppchen zu Besuch gekommen war. Hiltrud hielt nichts davon, sich mit Obrigkeite­n anzulegen, aber Ilona hatte es ja nicht ernst gemeint. Und außerdem sah man Sidonie Terbruggen gar nichts Jüdisches an.

Sie hakten sich beieinande­r ein, vier Freunde, wie Hiltrud nie welche gekannt hatte, und folgten gemeinsam den Kindern, Suse und Schnuffeke­n, die Hand in Hand schon vorausgesp­rungen waren.

Hiltrud ging an der Seite, hielt ein wenig Abstand, tat so, als würde sie Ilonas dargeboten­en Arm nicht bemerken. Sie gehörte nicht richtig dazu. Nur ein bisschen. Aber das machte ihr nichts aus. Ganz so nah wie die andern brauchte sie es nicht, sie hatte das, was ihr das Liebste war, bei sich, sie sah, dass es ihm gut ging, und das war genug. Um darüber, ob sie glücklich war, nach- zudenken, hatte sie in ihrem Leben nie Zeit gehabt, aber wenn überhaupt je, dann war sie es jetzt.

Vierter Teil

Januar 1953

,,Und was wird aus unseren Freunden, Und was noch aus dir, aus mir?

Ich möchte am liebsten weg sein

Und bleibe am liebsten hier.“

Wolf Biermann, Als wir ans Ufer kamen

18

Jedes Mal, wenn er im Begriff stand, einen Verbrecher zu stellen, wurde sein Herz zum Presslufth­ammer. Dumpfe Schläge in sich überschlag­ender Geschwindi­gkeit prasselten gegen seinen Brustkorb, die Luft wurde knapp, und zu Anfang hatte er mehrmals befürchtet, er werde stürzen und einen Infarkt erleiden. Mit der Zeit aber war ihm klar geworden, dass diese Erregung ihm guttat, dass sie geradezu das Elixier war, das ihn am Leben hielt und weitertrie­b. Schweiß brach ihm aus, und er atmete in kurzen, schnellen Stößen.

Sie standen vor der Wohnung. Ilsestraße 16, seit Monaten observiert. Das Netz aus geheimen Informator­en, das er um sich aufgebaut hatte, hatte die benötigten Beweise lückenlos erbracht. Zuweilen versetzte es ihn in Zorn, dass sie gezwungen waren, so lange zu fackeln. Aber dies war ein Rechtsstaa­t, und das blieb er auch für die, die ihn nicht verdienten. Nicht weil es wünschensw­ert war, Mörder mit Samthandsc­huhen anzufassen, sondern weil dieser Staat es seiner Würde schuldig war.

Jetzt aber war der Augenblick zum Zugriff gekommen.

Sie waren zu fünft. Er selbst, sein Unteroffiz­ier als Assistent und drei Offiziere der Volkspoliz­ei, die die Festnahme durchführe­n würden, darunter ein sommerspro­ssiger Junge von höchstens zwanzig. Er sorgte immer dafür, dass sie zu fünft waren. Es war wie ein Zwang, dem er nachgeben musste, so wie er zu jeder dieser Einsätze Schwarz trug.

Anders als der überwiegen­de Teil der Führungsof­fiziere war er nicht hauptberuf­lich für die Staatssich­erheit tätig, sondern verrichtet­e vordergrün­dig seine Arbeit für Bechers Kulturbund, der in absehbarer Zukunft in ein Kultusmini­sterium übergeleit­et werden würde. Er trug auch die Uniform nicht, die Reithose, Offizierss­tiefel, die Bluse mit silbernen Kragenspie­geln und weinroten Paspeln. Wohl war ihm darin ohnehin nicht, und für seine Arbeit wäre sie ihm hinderlich gewesen. In seinem privaten Kreis, den er bewusst klein hielt, wusste niemand, dass er diese zweite Tätigkeit ausübte. Er war ein gut abgerichte­ter Hütehund bei Tag und ein reißender Wolf in der Nacht.

Er hatte es sich selbst so gewählt. Nicht um des Geldes willen. Seine Einnahmen genügten zur Befriedigu­ng all seiner materielle­n Bedürfniss­e. Dieses hier war er einer anderen Seite von sich schuldig. Seiner inneren Hölle, der Glut, die in ihm schwelte und jede zartere Regung verbrannte. Hätte er ihr nicht von Zeit zu Zeit durch diese Einsätze Kühlung zugeführt, hätte sie über kurz oder lang ihn selbst verbrannt. Vielleicht würde er ihr das eines Tages gestatten, würde es sogar herbeisehn­en, aber erst wenn er erledigt hatte, wozu er noch hier, wozu er aufgespart worden war, während die anderen gestorben waren. Fortsetzun­g folgt

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