WIR SEHEN UNS UNTER DEN LINDEN
73. Fortsetzung
,,Weißt du was, Volker Engel?“, fragte Sidonie. ,,Meine Freundin Ilona hat eine ganze Menge bemerkenswerter Dinge in ihrem erst kurzen Leben zustande gebracht, aber du bist ihr Geniestreich. Ich weiß nicht, was ich anfangen würde, wenn ich keine Freunde wie euch hätte.“
Hiltrud begriff. Sidonie Terbruggen war Jüdin. In einem Lokal zu sitzen war für Juden kein Vergnügen mehr, selbst dort nicht, wo sie noch Einlass fanden.
Ihr Mann verzog den Mund. ,,Mit Dosenpfirsichen verpanschter Wein? Und das muss wirklich sein?“
Sie lachten alle. Ilona stieß Eugen den Ellbogen in die Seite.
,,Ehe dein zarter Magen von meiner Bowle Krämpfe bekommt, borge ich mir von Greeve, dem Suffkopf, eine Tasse Korn.“
Das wäre sträflicher Leichtsinn gewesen. Dieser Blockwart Greeve war hinterhältig.
Er beobachtete jede Wohnung, schrieb sich auf, wer hineinund hinausging, und hatte neulich erst im Treppenhaus geprahlt, er habe ein Ehepaar im Hinterhaus als Judenfreunde gemeldet, weil dort ein Mann mit krummer Nase und jüdischem Käppchen zu Besuch gekommen war. Hiltrud hielt nichts davon, sich mit Obrigkeiten anzulegen, aber Ilona hatte es ja nicht ernst gemeint. Und außerdem sah man Sidonie Terbruggen gar nichts Jüdisches an.
Sie hakten sich beieinander ein, vier Freunde, wie Hiltrud nie welche gekannt hatte, und folgten gemeinsam den Kindern, Suse und Schnuffeken, die Hand in Hand schon vorausgesprungen waren.
Hiltrud ging an der Seite, hielt ein wenig Abstand, tat so, als würde sie Ilonas dargebotenen Arm nicht bemerken. Sie gehörte nicht richtig dazu. Nur ein bisschen. Aber das machte ihr nichts aus. Ganz so nah wie die andern brauchte sie es nicht, sie hatte das, was ihr das Liebste war, bei sich, sie sah, dass es ihm gut ging, und das war genug. Um darüber, ob sie glücklich war, nach- zudenken, hatte sie in ihrem Leben nie Zeit gehabt, aber wenn überhaupt je, dann war sie es jetzt.
Vierter Teil
Januar 1953
,,Und was wird aus unseren Freunden, Und was noch aus dir, aus mir?
Ich möchte am liebsten weg sein
Und bleibe am liebsten hier.“
Wolf Biermann, Als wir ans Ufer kamen
18
Jedes Mal, wenn er im Begriff stand, einen Verbrecher zu stellen, wurde sein Herz zum Presslufthammer. Dumpfe Schläge in sich überschlagender Geschwindigkeit prasselten gegen seinen Brustkorb, die Luft wurde knapp, und zu Anfang hatte er mehrmals befürchtet, er werde stürzen und einen Infarkt erleiden. Mit der Zeit aber war ihm klar geworden, dass diese Erregung ihm guttat, dass sie geradezu das Elixier war, das ihn am Leben hielt und weitertrieb. Schweiß brach ihm aus, und er atmete in kurzen, schnellen Stößen.
Sie standen vor der Wohnung. Ilsestraße 16, seit Monaten observiert. Das Netz aus geheimen Informatoren, das er um sich aufgebaut hatte, hatte die benötigten Beweise lückenlos erbracht. Zuweilen versetzte es ihn in Zorn, dass sie gezwungen waren, so lange zu fackeln. Aber dies war ein Rechtsstaat, und das blieb er auch für die, die ihn nicht verdienten. Nicht weil es wünschenswert war, Mörder mit Samthandschuhen anzufassen, sondern weil dieser Staat es seiner Würde schuldig war.
Jetzt aber war der Augenblick zum Zugriff gekommen.
Sie waren zu fünft. Er selbst, sein Unteroffizier als Assistent und drei Offiziere der Volkspolizei, die die Festnahme durchführen würden, darunter ein sommersprossiger Junge von höchstens zwanzig. Er sorgte immer dafür, dass sie zu fünft waren. Es war wie ein Zwang, dem er nachgeben musste, so wie er zu jeder dieser Einsätze Schwarz trug.
Anders als der überwiegende Teil der Führungsoffiziere war er nicht hauptberuflich für die Staatssicherheit tätig, sondern verrichtete vordergründig seine Arbeit für Bechers Kulturbund, der in absehbarer Zukunft in ein Kultusministerium übergeleitet werden würde. Er trug auch die Uniform nicht, die Reithose, Offiziersstiefel, die Bluse mit silbernen Kragenspiegeln und weinroten Paspeln. Wohl war ihm darin ohnehin nicht, und für seine Arbeit wäre sie ihm hinderlich gewesen. In seinem privaten Kreis, den er bewusst klein hielt, wusste niemand, dass er diese zweite Tätigkeit ausübte. Er war ein gut abgerichteter Hütehund bei Tag und ein reißender Wolf in der Nacht.
Er hatte es sich selbst so gewählt. Nicht um des Geldes willen. Seine Einnahmen genügten zur Befriedigung all seiner materiellen Bedürfnisse. Dieses hier war er einer anderen Seite von sich schuldig. Seiner inneren Hölle, der Glut, die in ihm schwelte und jede zartere Regung verbrannte. Hätte er ihr nicht von Zeit zu Zeit durch diese Einsätze Kühlung zugeführt, hätte sie über kurz oder lang ihn selbst verbrannt. Vielleicht würde er ihr das eines Tages gestatten, würde es sogar herbeisehnen, aber erst wenn er erledigt hatte, wozu er noch hier, wozu er aufgespart worden war, während die anderen gestorben waren. Fortsetzung folgt