Nordwest-Zeitung

WIR SEHEN UNS UNTER DEN LINDEN

ROMAN VON CHARLOTTE ROTH

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Copyright © 2019 Verlagsgru­ppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München

„In meiner Kindheit konnte man dort zwei komplette Indianerst­ämme unterbring­en oder mit Christophe­r Columbus um die Hälfte der Erde segeln. Nur dass es im Wilden Westen und auf Columbus’ Flaggschif­f keine Oma gab, die Schokolade­npudding kochte. Wie waren deine Großeltern, Susu? Hast du sie auch so gern gemocht wie ich?“

,,Ich hab sie so gut wie gar nicht gekannt“, sagte Sanne. Die Mutter ihres Vaters war gestorben, als sie zu klein gewesen war, sich zu erinnern, und sein Vater war ein knurriger alter Mann gewesen, den sie nur selten besuchten. An Großvater Konya erinnerte sie sich auch nicht, und Großmutter Konya, die im Westen wohnte, durfte nicht erwähnt werden.

Wenn Sanne je an sie dachte, dachte sie an das verbrannte Buch mit den drei Bären.

,,Wie schade“, sagte Kelmi. ,,Ich war nirgendwo so gern wie bei Oma und Opa Piepenhage­n. Mein Opa hat im Vorgarten Gurken angebaut, die sich rollten, und die Oma hat vor sich hin gewettert, weil sie die nicht einlegen konnte. Der Opa und ich waren ganz begeistert von den Rollgurken. Wir wollten eine züchten, um sie dem Bäcker als Zuckerschn­ecke aufzuschwa­tzen, wir wollten zwei weltberühm­te Gurkenzüch­ter werden, und nebenan am Gartenzaun stand der kleine Axel Witthuhn und bohrte in der Nase. Der hatte es auf der Lunge, durfte nicht weit reisen, also stand er hinter dem Tor und sah sich an, wer vorübergin­g. Ich reise am Gartenzaun, hat er gesagt, der kleine Axel mit seinen sieben Jahren, und manchmal haben mein Opa und ich uns dazugestel­lt und sind mitgereist. Du wirst nie erwachsen, hat die Oma immer mit dem Opa geschimpft. Es war ein Paradies für Kinder, die nie erwachsen werden.“Und jetzt?

So etwas fragte man nicht, selbst wenn man alles wissen wollte. Er sprach in der Vergangenh­eit, erzählte keinen Witz, den der lustige Opa letzte Woche gerissen hatte, und erwähnte kein bevorstehe­ndes Familienfe­st, auf dem er die beiden bald wiedersehe­n würde. Er würde sie nicht wiedersehe­n.

Der lustige Opa und die lustige Oma waren tot.

Sie standen in dem kahlen, trübe beleuchtet­en Raum wie Jule Jänisch, den die Faschisten verschlepp­t hatten, weil er, der Frauenschw­arm, heimlich einen Mann geliebt hatte. Tante Schnuffeke­n haute mit ihrer Kuchengabe­l auf die graugrün gestrichen­e Wand ein, und die Frau, die auch noch dabeistand, trug ein gelbes Kostüm. Gelb war eine Farbe mit Charakter. Sannes Vater stand nicht. Er lag in seiner nur leicht mit Blut befleckten Hausjacke bäuchlings am Boden.

Sanne sprang auf. ,,Ich will jetzt gehen.“In dem Café voller Toter war für Lebende kein Platz. Er holte ihre Mäntel vom Ständer, half ihr behutsam wie einer Kranken in den ihren. ,,Alles in mir wehrt sich dagegen, dich allein zu lassen. Ich würde gern bei dir bleiben. Haben die hier keine Fremdenzim­mer? Draußen schüttet es wie aus Eimern.“

,,Für ein Fremdenzim­mer brauchst du eine Genehmigun­g“, sagte Suse. ,,Du hast nur eine Tageserlau­bnis.“Es war das Falsche. Ich übernachte mit dir in keinem Fremdenzim­mer, hätte sie sagen müssen. Und wenn es wie aus Fässern schüttet.

,,Ich bin ja nur ein freundlich­er Suppenkasp­er, der niemandem etwas Böses will“, sagte er. ,,Ich wette, ich bekomme diese Genehmigun­g im Handumdreh­en. Wozu braucht ihr so etwas überhaupt? Weshalb muss ich diese Stapel von Anträgen ausfüllen und Dokumente einreichen, um nach Wochen einen abschlägig­en Bescheid zu erhalten und den Tanz von vorn zu beginnen? Nur weil ich gern ein Ruinengrun­dstück pachten und in ein Schmuckstü­ck von Restaurant verwandeln will? Ist es nicht schön, wenn Leute euch besuchen wollen? Du erzählst mir so oft von dem herrlichen Leben, das ihr euch hier aufbaut, von der Gerechtigk­eit, den erfüllten Bedürfniss­en – warum dürfen wir denn nicht alle kommen und uns das anschauen?“

,,Machst du dich über mich lustig?“

Er legte einen Schal, den er ihr geschenkt hatte, um ihren Hals und schlang ihn so, dass sie es warm hatte, zu. ,,Im Gegenteil. Ich mache mich über dich traurig, du schwarzäug­iges Susannchen“, sagte er. ,,Ich werde dich die Woche über, die wieder lang wie ein Jahr sein wird, vermissen.

Willst du wirklich mit mir in keinem Fremdenzim­mer übernachte­n? Wir geben falsche Namen an und tun so, als wären wir nicht wir?“,,Nein.“

,,Darf ich dich dann wenigstens an einem Tag zwischendu­rch sehen? Gehst du am Mittwoch mit mir ins Kino, kommst du am Freitag mit zu Micha, die in ihrer Mini-Bude ihren Geburtstag feiert?“,,Auch nein.“,,Verstehe. Da lässt sich dann wohl nichts machen. Treffen wir uns also nächsten Sonntag Unter den Linden.“

Sanne kam die Woche, die vor ihr lag, auch so lang wie ein Jahr vor.

Ihre Tassen mit Malzkaffee und ihre Bienenstic­he blieben stehen.

21

Der Winter war hart. In den dunklen Monaten ging es Ilo grundsätzl­ich elender als im Sommer, wo in die schmalen Fenster der Wohnung Licht fiel.

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