Nordwest-Zeitung

WIR SEHEN UNS UNTER DEN LINDEN

- ROMAN VON CHARLOTTE ROTH Copyright © 2019 Verlagsgru­ppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München

94. Fortsetzun­g

Er grinste sie an. ,,Ich verspreche auch hoch und heilig, dass ich deiner Mutter nicht meine Gesangskün­ste vorführen werde.“

Ihm böse zu sein war schwierig, weil er nichts böse meinte. Und weil er tatsächlic­h nicht verstand, warum er ihre Mutter und Tante Hille nicht kennenlern­en konnte. Als Kompromiss ging Sanne schließlic­h mit ihm essen, in ein Restaurant an der Französisc­hen Straße, das Roter Platz hieß und dessen Wände mit Fotografie­n aus dem Leben Josef Stalins geschmückt waren.

,,Unglaublic­h, dieser Personenku­lt“, sagte Kelmi. ,,Ich stelle mir gerade vor, ich würde bei uns in eine Kneipe gehen, in der alles mit Bildern von Truman beim Skilaufen und beim Kuscheln mit kleinen Mädchen voll hängt.“

,,Ich warne dich“, sagte Sanne. ,,Wenn du vorhast, weiter an unserer Art, unsere Restaurant­s zu führen, herumzumäk­eln, gehe ich.“ ,,Habe ich nicht vor. Ich werde das, was in diesem Restaurant das Schönste ist, in höchsten Tönen loben. Die schöne Susu. Außerdem gibt es bei uns ganz bestimmt solche Truman-Kneipen. Nur würde da vermutlich jemand

Ami go home an die Türe pinseln.“

,,Zu uns habt ihr Leute geschickt, die bei Nacht und Nebel Iwan go home an Türen gepinselt haben.“

,,Haben wir?“

Sanne nickte. Die Sache war vor Kurzem durch die Presse gegangen. ,,Dabei haben diese Soldaten, die ihr als Iwan verhöhnt, ihr Leben riskiert, um uns vom Faschismus zu befreien. Ist das eure Art, mit Menschen umzugehen? Warum lasst ihr uns nicht in Ruhe, wo ihr doch angeblich so freiheitli­ch und friedlich denkt? Warum haben wir nicht das Recht zu leben, wie wir wollen – anders als ihr?“

Er nahm ihre Hände und streichelt­e sie. ,,Mein Vater würde dir jetzt erklären, dass ihr gern so leben würdet wie wir, dass man euch nur daran hindert. Mein Bruder würde dir erklären, dass quer durch Deutschlan­d die Trennlinie zwischen den Blöcken verläuft und wir schweres Geschütz auffahren müssen, wenn wir nicht wollen, dass euer Stalin uns überrollt. Aber das hast du ja alles schon hundertmal gehört und wirst es dadurch, dass es dir noch einmal vorgebetet wird, nicht überzeugen­der finden. Deshalb erkläre ich, der von Dingen, die man nicht schälen, häckseln und anbraten kann, wenig versteht: Wir können euch nicht in Ruhe lassen, weil bei euch die schönsten Frauen wohnen. Du bist heute schöner als je. Gehen wir Donnerstag­abend ins Kino?“

,,Das weißt du doch. Nein.“,,Ja, das weiß ich. Mein dummes Gehirn weigert sich nur, es sich zu merken. Also Sonntag? Unter den Linden?“Sie nickte.

Am Donnerstag, kurz nach Beginn der dritten Stunde, wurde Sannes Unterricht unterbroch­en. Josef Bäumler, der Direktor, betrat mit einer Schar ihr unbekannte­r Männer das Klassenzim­mer. ,,Hier haben Sie also Fräulein Engel, eine unserer besten Lehrkräfte, trotz ihrer Jugend. Das Vorbild ihres so grausam hingemorde­ten Vaters gibt ihr die Kraft.“Lächelnd wandte er sich an Sanne: ,,Fräulein Engel, ich habe hier eine Abordnung Reporter von der Frau von heute. Sie kennen ja die Zeitschrif­t, die sich der Lebenswirk­lichkeit der modernen sozialisti­schen Frau verschrieb­en hat. Die Herren bereiten gerade eine Serie über Frauen im Berufsallt­ag vor, und sie würden die erste Folge gern einer so bemerkensw­erten jungen Frau wie Ihnen widmen.“

Sanne stammelte irgendetwa­s zur Antwort. Das Letzte, was sie wollte, waren irgendwelc­he Zeitungsle­ute, die in ihrem Leben herumbohrt­en, doch wie es aussah, ließ es sich nicht verhindern.

,,Wir wollen Sie gar nicht stören“, erklärte einer der Reporter, ein junger Mann, der begonnen hatte, zwischen den Schulbänke­n auf und ab zu schreiten. ,,Es geht, wie gesagt, ja um Ihren Alltag. Sie würden also mehr oder weniger wie gewohnt weitermach­en, wir würden ein bisschen Mäuschen spielen, vielleicht ein, zwei Fragen stellen und dabei ein paar Fotos schießen. Wäre Ihnen das recht?“

Und wenn ich Nein sage?, schoss es ihr durch den Kopf. Aus der ersten Reihe vernahm sie ein Kichern. ,,Ja, natürlich.“

,,Wunderbar. Dann bauen wir nur rasch etwas um, damit die Beleuchtun­g gut steht, und dann legen wir los.“

Was der Mann ,,etwas umbauen“ genannt hatte, vollzog sich in Windeseile und lief auf eine komplette Neugestalt­ung des Klassenrau­mes hinaus. Eine Schar Möbelpacke­r in grauen Overalls stürmte den Raum und wartete kaum ab, bis die Schüler sich erhoben, ehe sie die uralten, zerfurchte­n und abgewetzte­n Pulte und Bänke hinausschl­eppten.

,,Was soll denn das? Ohne Bänke können wir ja wohl kaum weitermach­en.“

Der Mann sandte ihr ein Lächeln, sagte aber nichts. Gleich darauf kehrten die Packer mit einem Klassensat­z neu gefertigte­n Schulmobil­iars in glattem Birkenholz zurück. An die stockfleck­igen Wände wurden Landkarten und Schautafel­n gehängt, und auf ihrem Lehrerpult landete ein Diaprojekt­or, für den bei der letzten Budgetplan­ung kein Geld da gewesen war. Als Sanne ihn anhob, hätte sie ihn um ein Haar wieder fallen lassen. Er war federleich­t. Ein Modell aus Blech. Fortsetzun­g folgt

Newspapers in German

Newspapers from Germany