WIR SEHEN UNS UNTER DEN LINDEN
94. Fortsetzung
Er grinste sie an. ,,Ich verspreche auch hoch und heilig, dass ich deiner Mutter nicht meine Gesangskünste vorführen werde.“
Ihm böse zu sein war schwierig, weil er nichts böse meinte. Und weil er tatsächlich nicht verstand, warum er ihre Mutter und Tante Hille nicht kennenlernen konnte. Als Kompromiss ging Sanne schließlich mit ihm essen, in ein Restaurant an der Französischen Straße, das Roter Platz hieß und dessen Wände mit Fotografien aus dem Leben Josef Stalins geschmückt waren.
,,Unglaublich, dieser Personenkult“, sagte Kelmi. ,,Ich stelle mir gerade vor, ich würde bei uns in eine Kneipe gehen, in der alles mit Bildern von Truman beim Skilaufen und beim Kuscheln mit kleinen Mädchen voll hängt.“
,,Ich warne dich“, sagte Sanne. ,,Wenn du vorhast, weiter an unserer Art, unsere Restaurants zu führen, herumzumäkeln, gehe ich.“ ,,Habe ich nicht vor. Ich werde das, was in diesem Restaurant das Schönste ist, in höchsten Tönen loben. Die schöne Susu. Außerdem gibt es bei uns ganz bestimmt solche Truman-Kneipen. Nur würde da vermutlich jemand
Ami go home an die Türe pinseln.“
,,Zu uns habt ihr Leute geschickt, die bei Nacht und Nebel Iwan go home an Türen gepinselt haben.“
,,Haben wir?“
Sanne nickte. Die Sache war vor Kurzem durch die Presse gegangen. ,,Dabei haben diese Soldaten, die ihr als Iwan verhöhnt, ihr Leben riskiert, um uns vom Faschismus zu befreien. Ist das eure Art, mit Menschen umzugehen? Warum lasst ihr uns nicht in Ruhe, wo ihr doch angeblich so freiheitlich und friedlich denkt? Warum haben wir nicht das Recht zu leben, wie wir wollen – anders als ihr?“
Er nahm ihre Hände und streichelte sie. ,,Mein Vater würde dir jetzt erklären, dass ihr gern so leben würdet wie wir, dass man euch nur daran hindert. Mein Bruder würde dir erklären, dass quer durch Deutschland die Trennlinie zwischen den Blöcken verläuft und wir schweres Geschütz auffahren müssen, wenn wir nicht wollen, dass euer Stalin uns überrollt. Aber das hast du ja alles schon hundertmal gehört und wirst es dadurch, dass es dir noch einmal vorgebetet wird, nicht überzeugender finden. Deshalb erkläre ich, der von Dingen, die man nicht schälen, häckseln und anbraten kann, wenig versteht: Wir können euch nicht in Ruhe lassen, weil bei euch die schönsten Frauen wohnen. Du bist heute schöner als je. Gehen wir Donnerstagabend ins Kino?“
,,Das weißt du doch. Nein.“,,Ja, das weiß ich. Mein dummes Gehirn weigert sich nur, es sich zu merken. Also Sonntag? Unter den Linden?“Sie nickte.
Am Donnerstag, kurz nach Beginn der dritten Stunde, wurde Sannes Unterricht unterbrochen. Josef Bäumler, der Direktor, betrat mit einer Schar ihr unbekannter Männer das Klassenzimmer. ,,Hier haben Sie also Fräulein Engel, eine unserer besten Lehrkräfte, trotz ihrer Jugend. Das Vorbild ihres so grausam hingemordeten Vaters gibt ihr die Kraft.“Lächelnd wandte er sich an Sanne: ,,Fräulein Engel, ich habe hier eine Abordnung Reporter von der Frau von heute. Sie kennen ja die Zeitschrift, die sich der Lebenswirklichkeit der modernen sozialistischen Frau verschrieben hat. Die Herren bereiten gerade eine Serie über Frauen im Berufsalltag vor, und sie würden die erste Folge gern einer so bemerkenswerten jungen Frau wie Ihnen widmen.“
Sanne stammelte irgendetwas zur Antwort. Das Letzte, was sie wollte, waren irgendwelche Zeitungsleute, die in ihrem Leben herumbohrten, doch wie es aussah, ließ es sich nicht verhindern.
,,Wir wollen Sie gar nicht stören“, erklärte einer der Reporter, ein junger Mann, der begonnen hatte, zwischen den Schulbänken auf und ab zu schreiten. ,,Es geht, wie gesagt, ja um Ihren Alltag. Sie würden also mehr oder weniger wie gewohnt weitermachen, wir würden ein bisschen Mäuschen spielen, vielleicht ein, zwei Fragen stellen und dabei ein paar Fotos schießen. Wäre Ihnen das recht?“
Und wenn ich Nein sage?, schoss es ihr durch den Kopf. Aus der ersten Reihe vernahm sie ein Kichern. ,,Ja, natürlich.“
,,Wunderbar. Dann bauen wir nur rasch etwas um, damit die Beleuchtung gut steht, und dann legen wir los.“
Was der Mann ,,etwas umbauen“ genannt hatte, vollzog sich in Windeseile und lief auf eine komplette Neugestaltung des Klassenraumes hinaus. Eine Schar Möbelpacker in grauen Overalls stürmte den Raum und wartete kaum ab, bis die Schüler sich erhoben, ehe sie die uralten, zerfurchten und abgewetzten Pulte und Bänke hinausschleppten.
,,Was soll denn das? Ohne Bänke können wir ja wohl kaum weitermachen.“
Der Mann sandte ihr ein Lächeln, sagte aber nichts. Gleich darauf kehrten die Packer mit einem Klassensatz neu gefertigten Schulmobiliars in glattem Birkenholz zurück. An die stockfleckigen Wände wurden Landkarten und Schautafeln gehängt, und auf ihrem Lehrerpult landete ein Diaprojektor, für den bei der letzten Budgetplanung kein Geld da gewesen war. Als Sanne ihn anhob, hätte sie ihn um ein Haar wieder fallen lassen. Er war federleicht. Ein Modell aus Blech. Fortsetzung folgt