Nordwest-Zeitung

Lesen lernen keine Altersfrag­e

Ernst Lorenzen hat mit 55 Jahren schreiben gelernt – Mut machen

- Von Heidi Scharvogel

Oldenburg – „Jetzt will ich es wissen“, hat Ernst Lorenzen sich mit 55 Jahren gesagt. Er wollte endlich richtig lesen und schreiben lernen – und besuchte einen Intensivku­rs der VHS Oldenburg. Das war im Jahr 2011.

In dem Intensivku­rs büffelten sieben Erwachsene 20 Stunden pro Woche. Anfangs dachte er: „Da hängst du sowieso hintendran und kommst nicht mit.“

So war es ihm in der Schule ergangen: Drei Kinder kamen in seiner Klasse beim Lesen nicht so schnell mit. Sie wurden in die letzte Reihe verbannt und kaum noch drangenomm­en. „Damals fand ich das noch irgendwie gut. Musste mich nicht mehr beim Vorlesen blamieren. Später hat sich das natürlich geändert. Wer nicht richtig lesen und schreiben kann, ist abge- hängt.“

Möbeltisch­ler gelernt

Trotzdem absolviert­e Ernst Lorenzen nach der Schulzeit eine Ausbildung zum Bauund Möbeltisch­ler bei Hinsche in Oldenburg. „Dem Meister habe ich alles gesagt. Er meinte, das sei ihm egal. Es müsse nur stimmen, was produktiv dabei rauskommt“, erzählt Lorenzen. Er bestand die Gesellenpr­üfung. „Auch mein Lehrer wusste Bescheid. Ich sollte alles aufschreib­en, was ich wusste. Den Rest hat er mich mündlich abgefragt.“Den Meister hätte der verheirate­te Vater von zwei Töchtern auch gern gemacht – hat ihn aber wegen der fehlenden Leseund Schreibken­ntnisse nicht in Angriff genommen.

Lorenzen arbeitete 39 Jahre bei Hinsche – bis zu seiner Frühverren­tung. Als CNC-Fräsen angeschaff­t wurden, die über Computer gesteuert werden, arbeitete er sich ein: „Mit Zahlen konnte ich schon immer ganz gut umgehen. Aber

es war für mich natürlich viel schwierige­r.“

Das kostet Kraft. Noch stressiger ist aber die ständige Angst, dass die Lese- und Schreibsch­wäche herauskomm­t. „Diesen Druck hältst Du auf Dauer nicht aus. Das macht einen krank – körperlich und seelisch. Du musst ständig bereit sein und schnell reagieren können, damit keiner was merkt.“

Schnell abgestempe­lt

Warum muss eine geringe Literalitä­t denn geheim gehalten werden? „Weil die Gesellscha­ft das nicht anerkennt. Man wird gleich als dumm abgestempe­lt. Nach dem Motto: Der ist doch auch zur Schule gegangen“, berichtet Lorenzen. „Dabei hat eine LeseSchrei­bschwäche nichts mit Dummheit zu tun, sondern mit fehlender Unterstütz­ung.“

Um dies einer breiten Öffentlich­keit bekannt zu machen, hat er gemeinsam mit Brigitte van der Velde, die ebenfalls einen Alphabetis­ierungskur­s der VHS Oldenburg besuchte, 2011 eine Selbsthilf­egruppe gegründet.

Mit Erfolg: Lorenzen, van der Velde und ihre Mitstreite­r halten Vorträge, geben Workshops und informiere­n über die Möglichkei­ten der Alphabetis­ierung. „Wir wollen anderen Mut machen. Zeigen, dass man auch als Erwachsene­r lesen und schreiben lernen kann“, erklärt Ernst Lorenzen.

Sicher ist es nicht immer einfach, aber die Mühe lohnt sich. „Du musst dich nicht

mehr verstecken. Auf einmal kann man was und wird anerkannt“, beschreibt es Ernst Lorenzen. Eine Entwicklun­g, die er häufig beobachtet: „Viele kommen mit hängenden Köpfen zum ersten Mal in die Selbsthilf­egruppe in der VHS. Sie haben Angst, dass sie ihren Nachbarn treffen könnten. Nach ein paar Monaten haben sie eine ganz andere Haltung. Sie trauen sich, dem Nachbarn zu sagen, dass sie lesen und schreiben lernen – und bekommen meist positive Reaktionen.“

 ?? BILD: Achim Scholz ?? Sein Einsatz für Schreibsch­wache hat Ernst Lorenzen eine Auszeichnu­ng der Initiative „HelferHerz­en – Der dm-Preis für Engagement“beschert.
BILD: Achim Scholz Sein Einsatz für Schreibsch­wache hat Ernst Lorenzen eine Auszeichnu­ng der Initiative „HelferHerz­en – Der dm-Preis für Engagement“beschert.

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