WIR SEHEN UNS UNTER DEN LINDEN
99. Fortsetzung
,,Aber das tue ich doch gar nicht.“Kelmi, der noch immer nackt war, wirkte eher verwundert als empört. ,,Ich bin kein Politologe, ich wäre zu solchem Vergleich nicht einmal in der Lage. Ich sehe mir beides an, und wenn ich feststelle, dass Dinge übereinstimmen, dann interessieren mich die Gründe. Einer besteht vielleicht darin, dass man sich nicht im Mai 45 über Nacht neue Menschen backen konnte? Es ist doch nicht alles weiß, was nicht schwarz ist, Susu, und dass etwas besser ist als Faschismus, heißt doch noch lange nicht, es ist das Gelbe vom Ei.“
Sie wollte von dem, was er redete, nichts mehr hören, sie wollte weg von ihm, zurück in ihre eigene, sichere Welt.
,,Stalin hat auch Menschen spurlos verschwinden lassen“, sagte Kelmi. ,,Stalin hat auch Leben zerstört und Löcher in Familien gerissen. Du bist eine kluge, gebildete Frau. Wenn du dir zwei Minuten Zeit nimmst, dich zu besinnen, wirst du selbst feststellen, dass es für dich keinen Grund gibt, den soeben Verblichenen in den Himmel zu heben, und dass deine Erregung mit Stalins Tod nichts zu tun hat. Wenn du willst, halte ich dich dabei in den Armen. Ich täte nichts lieber als das.“
,,Doch. Zu deinem Vater rennen“, versetzte sie ätzend.
,,Der muss eben warten. Wenn es um dich geht, muss bei mir jeder warten. Zur Not stelle ich ein Schild auf: ›Sie werden platziert‹.“
Er breitete die Arme aus und trat auf sie zu, doch ehe seine Hände sie erreichten, wich sie zur Seite. ,,Fass mich nicht an! Geh zu deinem Vater, um mit ihm zu feiern, ich gehe nach Hause, um mit meinen Leuten zu trauern.“
,,Susu, komm doch zu dir. Ich habe Stalin nicht umgebracht, und was immer ich über ihn denke, hat mit dir und mir nichts zu tun.“
,,O doch, das hat es!“, rief sie, sammelte ihre Kleider vom Boden und zog sich ungeschickt, mit klammen Finre gern an. ,,Wir gehören nicht zusammen, stehen in unterschiedlichen Lagern, und genau das habe ich dir von Anfang an gesagt.“
,,Ich kann nicht glauben, dass ich dich solchen Unsinn reden höre. Ich stehe in überhaupt keinem Lager. Ich bin ein Koch, der so verknallt ist, dass er die Suppe versalzt, ich habe die schönste Nacht meines Lebens hinter mir und renne plötzlich gegen eine Wand, weil irgendwo ein Kerl gestorben ist, den keiner von uns kennt. Das kann doch nicht sein, Susu. Mensch, Mädchen, ich würde für dich durch jedes Herdfeuer tanzen. Ich will mit dir zusammen sein, und Hitler und Stalin und Gott und sein Onkel, die haben sich dabei nicht einzumischen.“
Sanne fingerte am Verschluss ihres Büstenhalters, fühlte sich schutzlos und ließ ihn schließlich offen. Erst als sie sich Bluse und Pullover über den Kopf gestreift hatte, gewann sie ein wenig Sicherheit zurück. ,,Komm nicht mehr zu mir“, sagte sie. Sie würde in der Schule bitten, telefonieren zu dürfen, würde im Bekleidungshaus anrufen oder bei Eugen im Ministerium und versuchen, ihre Familie zu beruhigen. Anschließend musste sie den Schülern beistehen, die Stalins Tod tief verunsichern würde, musste ihnen erklären, dass das Werk eines Menschen nicht starb, dass es an ihnen lag, das, was Stalin begonnen hatte, fortzuführen.
Sie musste ihr Leben wieder in den Griff bekommen.
,,Versuch nicht mehr, mich zu sehen“, sagte sie. ,,Auch nicht Unter den Linden. Es wä
sinnlos, denn ich komme nicht mehr dorthin.“
,,Ich komme trotzdem!“, rief er. ,,Das lasse ich mir weder von dir noch von Stalin verbieten, und das, was hier gerade passiert, ist doch wohl nicht wahr. Sind wir Hummer, hat uns jemand in zu heißes Wasser geschmissen?“
Sanne ging an ihm vorbei aus der Tür. Was er ihr nachrief, hörte sie nicht mehr.
24
Juni
,,Und so taufe ich dich im Namen des Vaters, des Sohnes und des
Heiligen Geistes auf den Namen Georg-Hubertus.“Willkommen in der Familie, Kelmi Nummer zwei, dachte Kelmi. Dass sein Neffe und frisch gebackener Patensohn bei der Prozedur zu brüllen begann, konnte er ihm nicht verdenken. Jobst und Sabsi waren einfach unfair, einen so kleinen Kerl, der zudem einen ganz patenten Eindruck machte, mit einem solchen Ungetüm von Namen zu befrachten, wobei Sabsi glaubhaft behauptete, daran unschuldig zu sein. Er trat vor, als der Pfarrer ihn heranwinkte, und bekam den noch immer brüllenden Täufling in die Arme gelegt. ,,Na komm“, sagte er, ohne eine Chance, sich Gehör zu verschaffen.
,,Georg alleine ist doch gar nicht so übel. Und was wäre, wenn jeder, der mit einem hirnrissigen Namen gestraft ist, solchen Lärm veranstalten würde? Kein Wichtigtuer könnte mehr eine Rede halten, denn niemand würde auch nur ein Wort hören.“
Fasziniert betrachtete er das krebsrote, verzerrte Gesichtchen seines Neffen. Wie viel Kraft in dieser winzigen Persönlichkeit steckte, wie viel wütender Wille zu leben. Dass er zum Weinen nie einen übleren Grund als seinen affigen Namen haben würde, wünschte ihm Kelmi, während er sich der Prozession anschloss und ihn in die Kirchenbank zurücktrug.
Fortsetzung folgt