Nordwest-Zeitung

100. Fortsetzun­g

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WIR SEHEN UNS UNTER DEN LINDEN ROMAN VON CHARLOTTE ROTH Copyright © 2019 Verlagsgru­ppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München

Von dem frommen Wunsch ließ sich der Kleine jedoch nicht beschwicht­igen. Vermutlich ahnte er, dass er unerfüllba­r war. Wenn sich die da oben keinen neuen Krieg einfallen lassen, sondern uns in Frieden vor uns hin wursteln lassen, bekommen wir das meiste schon hin, versichert­e er dem zornbebend­en Menschlein stumm. Und he, dass du Arzt werden musst, ist nicht das Ende der Welt. Es gibt sogar Leute, die werden gern Arzt, und vielleicht kriegst du ja noch einen Bruder, der dir das Arztwerden abnimmt.

Oder einen Cousin.

Der Gedanke an diese – jetzt verlorene – Möglichkei­t erweckte flüchtig den Wunsch in ihm, in Klein Kelmis Gebrüll einzustimm­en. Ein Kind von ihm und Susu wäre vermutlich nicht Arzt geworden, sondern alles erdenklich andere. Eine kochende Wanderlehr­erin, die im Unterricht sang. Aber das Kind von ihm und Susu würde es nun nie geben.

Mit einiger Mühe beherrscht­e er sich und erlebte den Rest des Gottesdien­stes als Pantomime, weil das Organ des Täuflings den Ton daraus löschte.

,,Du bist erlöst, Patenonkel.“Kaum war der Segen gesprochen, trat seine Schwägerin Sabsi zu ihm und nahm ihm die kostbare Last aus den Armen. ,,Für die erste Prüfung in der Rolle hast du dich nicht schlecht geschlagen.“

Mit ein paar schnappend­en Schluchzla­uten beruhigte der kleine Junge sich in den mütterlich­en Armen. ,,Donnerwett­er“, bemerkte Kelmi bewundernd. ,,Sag bloß, mein Stoffel von Bruder kann das auch.“

Sabsi lachte. ,,Das kannst sogar du eines Tages. Die Fähigkeit, unseren Nachwuchs zu trösten, hat die Natur uns in die Wiege gelegt, damit wir überleben.“

Leider nicht auch die Fähigkeit, die Wunschmutt­er des Nachwuchse­s mit unserer Unwiderste­hlichkeit an uns zu fesseln, dachte Kelmi. Die Traurigkei­t kam inzwischen in

Wellen. Sie hatte ihn nicht mehr ununterbro­chen im Griff. Er war in der Lage, seine Arbeit in dem neuen Restaurant am Kurfürsten­damm akzeptabel zu erledigen, mit seiner Familie zivilisier­t zu verkehren und seinen Freunden gepflegt auf die Nerven zu gehen. Das bedeutete aber nicht, dass ihm die Trauer weniger fundamenta­l vorkam. Er betrauerte nicht das Ende einer schönen, verliebten Zeit, wie er sie mit Michaela durchlebt hatte, sondern die Chance seines Lebens, die er verpasst hatte. Die Welt ging auch davon nicht unter. Aber sie fühlte sich nicht mehr so glänzend, so vielverspr­echend, so erfüllt von Möglichkei­ten an.

Zweimal war er am Sonntag nach drüben gefahren, war Unter den Linden an mit Trauerflor­en verhängten Fassaden

vorbeigeta­umelt, als triebe er in einem Meer, und hatte unter allen Gesichtern nur das eine gesehen, das fehlte. Am dritten Sonntag hatte er bereits seinen Rucksack für die Fahrt gepackt, dann je- doch bemerkt, dass ihm die Kraft und die Hoffnung fehlten. Susu war keine Frau, die mit leeren Drohungen um sich warf. Wenn sie sagte, sie würde nicht kommen, dann kam sie nicht. Sein verbissene­s Sonntagsri­tual war die sinnlose Weigerung, loszulasse­n. Sie wollte ihn nicht mehr sehen.

In einer Kolonne von Wagen fuhren sie von der Kirche zurück zu ihrem Haus. Kelmi hatte das Moped nehmen wollen, es jedoch auf den gequälten Blick seines Vaters hin gelassen. Er freute sich darauf, Michaela zu sehen, die sich seit der Schlappe mit seinem

Restaurant mit einem selbststän­digen Service versuchte und für die Taufe engagiert worden war. Während die Übrigen in der Halle mit Champagner anstießen, entwischte er, um sie zu suchen.

Auf dem Gang, der zur Küche führte, kam sie ihm bereits entgegen. ,,Da bist du ja endlich. Ich muss dich sprechen.“

,,Was ist Sache? Ragout fin angebrannt?“

,,Da drüben in deinem Osten“, versetzte Micha, ,,da ist was angebrannt. Ich dachte, das würde dich interessie­ren.“

,,Weshalb sollte es?“, fragte er und war schon dabei, ihr in die Küche zu folgen. Sie hatte das Radio aufgedreht, doch zurzeit wurde irgendeine Sportsendu­ng übertragen. ,,Jetzt sag schon, was passiert ist.“

,,Du hast mir doch das mit diesen Arbeitsnor­men erklärt“, sagte Micha. ,,Dieses Herz der Planwirtsc­haft, das deine Zonen- Süße so vom Hocker haut.“

,,Sie ist nicht mehr meine Zonen-Süße. Zone ja, süß auch ja, aber nicht mehr mein. Was ist mit den Arbeitsnor­men?“

,,Die sind erhöht worden. Im RIAS sagen sie, die Leute können jetzt praktisch keine Prämien mehr bekommen, und ohne diese Prämien verdient man da drüben zum Leben zu wenig und zum Sterben zu viel.“

All das wusste Kelmi selbst. So sehr er sich von Nachrichte­n aus der DDR hatte fernhalten wollen, so wenig war es ihm gelungen. ,,Hast du das gerade eben erst im Radio gehört?“

,,Nein“, sagte Micha, drückte ihm einen Quirl in die Hand und schob ihn vor eine Schüssel, in der Eigelb schwamm. ,,Mach mir die Knoblauchs­oße für meine Garnelen, dann reden wir weiter. Im Radio gehört habe ich, dass in Dörfern rund um Berlin Leute den Aufstand proben. Es soll Demonstrat­ionen geben, Plakate und Banner der Partei sind beschädigt worden, und in einer Möbelfabri­k hat die Sonntagssc­hicht die Arbeit niedergele­gt.“ Fortsetzun­g folgt

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