Runder Geburtstag in Krisenzeiten
Das Bundesverfassungsgericht wird 70 Jahre alt
70 Jahre nach seiner Gründung gilt das deutsche Verfassungsgericht als eines der mächtigsten weltweit. Das war und ist keine Selbstverständlichkeit. Ein Blick zurück und nach vorn.
■ Die ersten Weichenstellungen
Als das Bundesverfassungsgericht im September 1951 seine Arbeit aufnimmt, ist das Grundgesetz, über dessen Einhaltung es wachen soll, schon mehr als zwei Jahre in Kraft. Artikel 93 weist dem neuen Gericht deutlich mehr Kompetenzen zu, als sie der Staatsgerichtshof der Weimarer Republik je hatte – eine Lehre aus dem Dritten Reich.
Aber um die Details des Gerichtsaufbaus oder der Richterwahl, die im Bundesverfassungsgerichtsgesetz geregelt sind, hatte die Politik noch bis ins Jahr 1951 hinein gerungen. Erst in diesem Gesetz steht, dass das Gericht nicht nur Streitigkeiten zwischen Staatsorganen klären, sondern auch über Verfassungsbeschwerden entscheiden soll, die jeder erheben kann. Das gibt es zum damaligen Zeitpunkt nirgendwo sonst. Das Bundesverfassungsgericht wird damit zum Bürgergericht. Der Sitz soll „vorerst in Karlsruhe“sein, wie
ebenfalls per Gesetz bestimmt wird; dort sitzt seit 1950 schon der Bundesgerichtshof. Am 7. September 1951 konstituiert sich das Gericht unter seinem Präsidenten Hermann Höpker-Aschoff.
■ Die auffälligsten Veränderungen
Erst seit 1963 bestehen die beiden Senate aus je acht Richtern – vorher waren es zwölf. 1971 wird die Amtszeit auf zwölf Jahre begrenzt. Sie endet spätestens mit dem 68. Geburtstag. Und die Richterschaft ist weiblicher geworden. 1951 gibt es in Karlsruhe nur eine einzige Verfassungsrichterin: Erna Scheffler, die gleich mehrere für die Gleichberechtigung wichtige Entscheidungen mit erarbeiten wird. Ihr Posten im Ersten Senat wird mit Frauen nachbesetzt, aber erst 1994 kommen zwei weitere Richterinnen dazu. Im selben Jahr wird Jutta
Limbach als erste und bisher einzige Frau Präsidentin des Gerichts. Der Zweite Senat, dessen Vorsitz sie übernimmt, war bis 1986 ausschließlich männlich besetzt.
Seit 2020 sind die Frauen in der Überzahl: vier im Ersten, fünf im Zweiten Senat – darunter Vizepräsidentin Doris König. Gerichtspräsident Stephan Harbarth ist seit Juni 2020 im Amt. Am Sitz in Karlsruhe rüttelt heute niemand mehr. Aber das historische Prinz-Max-Palais, das das Gericht in seinen Anfangsjahren beherbergt hat, ist schnell zu klein geworden. 1969 zieht das Verfassungsgericht an den Rand des Schlossgartens, in das moderne Gebäudeensemble des Berliner Architekten Paul Baumgarten.
■ Die wichtigsten Entscheidungen
Durch seine Rechtsprechung hat das Bundesverfassungsgericht die Grundrechte mit Leben gefüllt und dem demokratischen Verfassungsstaat seine Gestalt gegeben. Als Meilenstein gilt das Lüth-Urteil von 1958. Erich Lüth hatte Veit Harlan („Jud Süß“) als „NazifilmRegisseur Nr. 1“bezeichnet und zum Boykott aufgerufen, die Produktionsfirma verklagte ihn. In ihrem Urteil brechen die Verfassungsrichter eine Lanze für die Meinungsfreiheit und schreiben fest, dass das Wertsystem des Grundgesetzes „als verfassungsrechtliche Grundentscheidung für alle Bereiche des Rechts gelten“muss.
■ Die größten Herausforderungen
Die Corona-Pandemie macht nicht nur Verhandlungen schwierig – und ein Bürgerfest oder einen Tag der offenen Tür zum Jubiläum unmöglich. Die beispiellosen Grundrechtseinschränkungen haben auch eine Klagewelle ausgelöst. Bisher haben die Richterinnen und Richter sehr vorsichtig agiert, die allermeisten Eilanträge abgewiesen und der Politik weitgehend freie Hand gelassen. Das bringt ihnen auch Kritik ein. Eine grundsätzliche Antwort auf die Frage, wie weit der Staat in Pandemie-Zeiten gehen darf, müssen sie in den nächsten Monaten geben.