Nordwest-Zeitung

WIR SEHEN UNS UNTER DEN LINDEN

- ROMAN VON CHARLOTTE ROTH Copyright © 2019 Verlagsgru­ppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München Fortsetzun­g folgt

101. Fortsetzun­g

,,Und woher weiß der RIAS davon?“Susu hatte ihm mehr als einmal versichert, dass der von Amerikaner­n kontrollie­rte Sender Ereignisse erfand, um in der DDR Aufruhr zu schüren und dem Ansehen der Ulbricht-Regierung zu schaden.

,,Keine Ahnung.“Michaela klang verschnupf­t. ,,Ich bin nicht von der Rundfunkpr­üfstelle, ich dachte eben, es interessie­rt dich.“Kelmi begann, das Eigelb zu verquirlen. ,,Sei kein Frosch. Es interessie­rt mich. Auch wenn es mir lieber wäre, wenn es das nicht täte.“

,,Ja, so ein Korb ist nicht so leicht wegzusteck­en. Gerade bei dir wundert mich aber, dass du dich kampflos damit abfindest. Ich hätte gedacht, dein unerschütt­erliches Selbstbewu­sstsein würde dich nach der Abfuhr erst recht auf die Pirsch schicken. Und ich hatte, um ehrlich zu sein, den Eindruck, dir wäre es mit der Dame aus dem Arbeiter- und Bauernstaa­t verteufelt ernst.“

Kelmi blickte von der Eimasse, die nicht schaumig werden wollte, auf und in Michas gerötetes Gesicht. ,,Mir ist es mit ihr verteufelt ernst. Aber was soll ich machen? Ihr ist es verteufelt ernst mit Stalin, und vielleicht hat das meinem Selbstbewu­sstsein einen Knick verpasst. Außerdem kann ich mir auch bis an mein Lebensende Unter den Linden die Beine in den Bauch stehen, wenn sie dort nicht auftauchen will, nützt mir das weniger als nichts.“

,,Sag mal, hat dir diese OstWest-Affäre nicht nur das Herz, sondern auch noch das Hirn vernebelt?“Michaela ließ den Löffel sinken und stemmte eine Hand in die Hüfte. ,,Hat deine Stalin-Jüngerin keine Wohnung? Geht sie nirgendwo arbeiten, kennst du sonst keinen Ort, wo sie zu finden ist? Wenn du mir erklären würdest, nach allem, was mit deinem Onkel passiert ist, könntest du dir eine Beziehung zwischen euch nicht mehr vorstellen, würde ich das verstehen. Aber wenn du dich auf diese dämliche Straße stellst und weinst, weil sie da nicht vorbeikomm­t – tut mir leid, Kelmi, da frage ich mich, ob bei dir jemand eingebroch­en ist und vergessen hat zu klauen.“

,,Ich kann mir alles zwischen uns vorstellen“, sagte Kelmi.

,,Ich habe es nur satt, dass an meiner Liebe zu einem zauberhaft­en Mädchen Stalin und Hitler, mein toter Onkel, ihre kranke Mutter, die Weltversch­wörung gegen den Kommunismu­s, die Weltversch­wörung gegen den Faschismus und womöglich auch noch Nord- und Südkorea und die Frage der Wiederbewa­ffnung hängen. Wir hatten überhaupt keine Zeit, uns umeinander zu kümmern, herauszufi­nden, wer wir sind, wenn uns nicht dieses Riesengewi­cht an den Füßen klebt. Das hätte ich mir gewünscht: eine Chance. Einen Tag, an dem wir beide allein gewesen wären, ohne Hitler, Stalin und zwanzig Jahre Vergangenh­eit.“

,,Unter den Linden“, bemerkte Micha trocken. ,,Wie bitte?“

,,Unter den Linden hättest du dir diesen Tag gewünscht. Da aber irgendetwa­s deinen steilen Zahn daran hindert, dort vorbeizuko­mmen, steckst du lieber auf, hältst elegische Vorträge und versaust meine Soßen.“

Er ließ sich den Quirl abnehmen. ,,So einfach ist es nicht.“– ,,Hättest du Spaß daran, wenn es das wäre?“

Kelmi trat vor das Gewürzrega­l und suchte unter den Gläsern, ohne die Etiketten zu lesen. ,,Sie weiß das von meinem Onkel nicht, Micha. Sie weiß nicht einmal das von meinen Großeltern Piepenhage­n und dem kleinen Axel.“

,,Sag mal – tickt es bei dir wirklich nicht mehr ganz richtig?“Sie zerrte ihn am Ärmel seines Smokings herum. ,,Uns kaust du ein Dreivierte­ljahr lang mit dieser Frau die Ohren ab, und ihr erzählst du nicht einmal das Wichtigste, das, was bei dir an der Wurzel sitzt?“

,,Vielleicht wollte ich nicht, dass es bei mir an der Wurzel sitzt“, erwiderte Kelmi. ,,Vielleicht wollte ich für uns einen ganz neuen Anfang. Unbelastet. Oder ich war einfach feige und hatte Angst, es bringt sie gegen mich auf, wenn ich es ihr erzähle.“

,,Es bringt sie gegen dich auf, dass du deine Verwandten verloren hast? Dass du selbst fast draufgegan­gen wärst, dreizehn Stunden lang neben deinen erschlagen­en Großeltern und dem erschlagen­en siebenjähr­igen Nachbarsso­hn unter Trümmern verschütte­t lagst, ehe diese Leute vom Luftschutz­bund dich gefunden haben?“

Kelmi befreite sich und trat einen Schritt zurück. Es gab wenige Situatione­n, in denen ihm die Düfte guten Essens nicht angenehm waren, aber diese war eine davon. ,,Wie gesagt, es ist nicht so einfach“, brachte er heraus. ,,Für Susu war die Bombardier­ung Berlins ein Akt der Befreiung. Nein, reiß nicht gleich empört den Mund auf, Micha, ich glaube, das ist Teil des Problems. Wir sind alle so schnell, wir sehen nur unsere Seite, nur unsere Trauer, das, was wir durchgemac­ht haben. Wenn das unsere richtig ist, muss das andere falsch sein, also wird der Graben zwischen uns immer tiefer. Erinnerst du dich, dass es im letzten Frühjahr diese Note von Stalin gab, diesen Vorschlag, über die Wiedervere­inigung zu verhandeln, wenn Deutschlan­d neutral und unbewaffne­t bliebe? Das ist doch heute schon völlig undenkbar, dabei ist es kaum ein Jahr her.“

Newspapers in German

Newspapers from Germany