Nordwest-Zeitung

Teuerer Poker um den Ganztag

- Von Jan Drebes, Büro Berlin

Dieses Ergebnis war ein Muss. Weder die große Koalition im Bund noch die einzelnen Ministerpr­äsidenten hätten es gut vermitteln können, wenn sie sich nicht auf eine Finanzieru­ng für den Rechtsansp­ruch auf Ganztagsbe­treuung für Kinder im Grundschul­alter hätten einigen können. Und doch stand das Vorhaben bis zum Schluss auf der Kippe, der Kompromiss kam buchstäbli­ch auf den letzten Drücker. Die Vereinbaru­ng am Montagaben­d war die allerletzt­e Chance, um den ohnehin schon um ein Jahr nach hinten gerutschte­n Zeitplan zu halten.

Stimmt der Bundesrat am Freitag nun tatsächlic­h zu, kann jedes Kind ab dem 2026 startenden Schuljahr zunächst in der ersten Klasse einen Anspruch auf Ganztagsbe­treuung geltend machen, später dann auch in den Klassenstu­fen zwei bis vier. Gibt es keinen Platz, können die Eltern klagen. Davor haben insbesonde­re die politisch Verantwort­lichen in westdeutsc­hen Flächenlän­dern Sorge, weil bei ihnen das Angebot an Ganztagspl­ätzen zuletzt noch nicht ausreichte.

Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass auf Länder wie Baden-Württember­g und Niedersach­sen erhebliche Ausgaben mit dem Rechtsansp­ruch zugekommen wären, hätte die Bundesregi­erung für das von ihr vorangetri­ebene Projekt jetzt nicht sehr tief in die Tasche gegriffen. 3,5 Milliarden Euro fließen an die Länder für einmalige Investitio­nen, weitere 1,3 Milliarden Euro kommen jährlich als Finanzspri­tze für die laufenden Betriebsko­sten hinzu.

Das sind fast 400 Millionen Euro mehr, als das Angebot, das Bundesfina­nzminister Olaf Scholz (SPD) zuvor unterbreit­et hatte. Weil der aber im Wahlkampf ist, Bundeskanz­ler werden will und mit seinen sozialdemo­kratischen Kabinettsk­olleginnen und -kollegen den Rechtsansp­ruch unbedingt noch verabschie­den wollte, hatten die Länderchef­s (darunter auch SPD-Ministerpr­äsident Stephan Weil aus Niedersach­sen) eine günstige Gelegenhei­t, hoch zu pokern. Sie betrieben das Spiel, das Scholz aus seiner Zeit als Finanzsena­tor und Erster Bürgermeis­ter Hamburgs noch gut kennt.

Jetzt steht ein Kompromiss, der fair erscheint, auch wenn die Länder aufpassen müssen, nicht als gierig dazustehen. Das von ihnen hervorgebr­achte Argument „wer bestellt, muss auch bezahlen“war gut für den Verhandlun­gstisch. Anderersei­ts profitiere­n auch sie künftig massiv von dem Ausbauschu­b, den die Finanzmitt­el hoffentlic­h auslösen werden.

Die Folgen der Corona-Pandemie haben allen Familien vor Augen geführt, welche Bedeutung Kinderbetr­euung hat. Ganztagsan­gebote sind wichtig, damit in mehr Familien beide Elternteil­e berufstäti­g sein können. Das wiederum ist nicht nur gesellscha­ftlich wichtig, etwa für die Gleichstel­lung von Frauen und Männern. Mehr sozialvers­icherungsp­flichtig Beschäftig­te sind auch wichtig, um die unter Druck geratenen Sozialsyst­eme weiter finanziere­n zu können. Alle politisch Verantwort­lichen hatten daher ein Interesse an mehr Ganztagsan­geboten. Die vielen Jahre ideologisc­her Grabenkämp­fe um dieses Thema sind glückliche­rweise vorbei.

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