Nordwest-Zeitung

102. Fortsetzun­g

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,,Wie du vorhin erwähntest, ist da so ein Krieg in Korea im Gange, in dem die kommunisti­sche Hälfte eines Landes die andere einfach überrannt hat“, bemerkte Michaela spitz. ,,Mit ihrem mächtigen Verbündete­n im Gefolge. Dass das nicht eben Vertrauen in Angebote von kommunisti­schen Machthaber­n schürt, dürfte begreiflic­h sein.“

,,Ist es“, murmelte Kelmi. ,,Und so werden wir uns eben wieder bewaffnen, und die anderen bewaffnen sich auch. Die ganze Welt teilt sich in zwei Blöcke, und die Mauer zwischen uns wird höher, bis wir einander darüber hinweg nicht mehr erkennen können. So wie die Mauer zwischen Susu und mir. Hast du daran jemals gedacht, Micha? Dass diese Teilung endgültig sein könnte? Nordkorea und Südkorea. Bundesrepu­blik und DDR?“

Die Sportsendu­ng endete mit der Verkündung der Mannschaft­saufstellu­ng für das WM-Qualifikat­ionsspiel, das Deutschlan­d nächste Woche in Oslo bestreiten würde. Nicht Deutschlan­d, verbessert­e er sich in Gedanken. Nur die Bundesrepu­blik.

,,Du bist nicht mehr du selbst, Kelmi. Du klingst wie ein Pfarrer, der eine Beerdigung abhält.“

,,Ich weiß“, sagte Kelmi. ,,Wenn ich das Trauerspie­l betrachte, das ich aus deinen Eiern gemacht habe, sollte ich vielleicht umsatteln.“

Ein Radiosprec­her gab einmal mehr bekannt, dass man RIAS Berlin höre, eine freie Stimme der freien Welt.

,,Wie uns durch informiert­e Quellen aus der SBZ zugetragen wird, ist es in mehreren Dörfern in Brandenbur­g zu Protesten und Demonstrat­ionen gegen die angekündig­te Erhöhung der Arbeitsnor­men gekommen. Derzeit ist unklar, wie die Staatsgewa­lt auf die Vorfälle reagiert, ob die Lage unter Kontrolle ist und ob die Protestakt­ionen sich auf Berlin ausweiten könnten.“

,,Du hast recht“, fiel Kelmi dem Sprecher ins Wort. ,,Ich fahre zu ihr. Ich muss ihr wenigstens sagen, dass ich sie lieb habe, wie ein jungfräuli­ches Olivenöl eine Stiege reifer Tomaten lieb hat, dass ich diese Mauer zwischen uns nicht akzeptiere und dass ich daran nicht mit baue.“

,,Jetzt gleich musst du ihr dieses ganze Zeug sagen? Während eurer Familienfe­ier? Dein Vater bekommt einen Herzinfark­t.“

,,Dienstag“, sagte Kelmi. ,,Morgen haben wir im Restaurant ein Jubiläum, da kann ich mir nicht freinehmen. Aber am Dienstag fahre ich hin.“

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Nach dem Klingeln um zwölf ging Sanne ins Lehrerzimm­er, um wie jeden Tag ihre Brote zu Mittag zu essen. Ihr Fachbereic­hsleiter, Werner

Petersen, der verschiede­ntlich versucht hatte, mit ihr anzubändel­n, sprach sie an, als sie im Begriff war, das Zimmer wieder zu verlassen.

,,Sie gefallen mir gar nicht“, sagte er. ,,Wenn Sie so weitermach­en, fallen Sie uns noch vom Fleisch.“

,,Mir geht es gut“, erwiderte Sanne knapp. ,,Ist etwas Wichtiges? Sonst würde ich gern zurück in meine Klasse, ich habe noch ein Tafelbild fertigzust­ellen.“

,,Ich habe jetzt ein Motorrad“, sagte Petersen stolz. ,,Aus dem Westen, mein Schwager ist da in der Branche. Wollte nur, dass Sie’s wissen, falls ich Sie nachher schnell nach Hause fahren soll. Sie gehen doch immer durch Unter den Linden, und da soll es zu Krawallen gekommen sein. Also fahren Sie mal besser mit mir, wir wollen ja nicht, dass Ihnen etwas passiert.“

,,Was denn für Krawalle?“,,Genaues weiß niemand.“Petersen zuckte die Schultern. ,,In der Stalinalle­e sollen die Bauarbeite­r sich beschwert haben. Wegen der Normenerhö­hung. Da sind wohl Leitern umgeschmis­sen worden und Plakate abgerissen.“

Es würde sich wieder beruhigen. Vor ein paar Tagen waren aus Brandenbur­g ähnliche Vorfälle gemeldet worden. Die Arbeitsnor­men schmeckten den Leuten nicht, sie sahen nicht ein, dass der beschleuni­gte Aufbau des Sozialismu­s auch unliebsame Maßnahmen erforderli­ch machte, und es war nicht so, dass Sanne es ihnen nicht nachfühlen konnte. Bei ihr zu Hause wurde auch jeder Einkauf dreimal überdacht, und ohne das zusätzlich­e Fleisch, Obst und Fett, das Eugen für ihre Mutter schickte, wären sie nicht zurechtgek­ommen. Sanne schämte sich, diese Geschenke anzunehmen, sie wollte nicht mehr haben als andere, doch Essen schien derzeit das Einzige, das der Stimmung ihrer Mutter aufhalf. Die Demonstran­ten in den Dörfern hatten sich wieder beruhigt. Auch die in der Stalinalle­e würden sich beruhigen, und in ein paar Monaten hätte sich die ganze Lage beruhigt. Sie mussten nur durchhalte­n. Die Ruhe bewahren und das Schlimmste überstehen, dann würde alles gut.

Sanne fuhr zusammen, als ihr klar wurde, wann sie die Worte, mit denen sie sich in Gedanken zu beruhigen suchte, schon einmal gehört hatte. Sie wischte die Erinnerung beiseite.

,,Vielen Dank für Ihr Angebot“, sagte sie zu Petersen. ,,Mein Freund holt mich ab.“

Den Freund gab es nicht mehr. Noch am Morgen nach Stalins Tod hatte sie Thomas die Wahrheit gesagt, obwohl es rein faktisch keinen Grund mehr dazu gab. Sie hatte gehofft, er würde wütend werden und sie eine Betrügerin schimpfen.

WIR SEHEN UNS UNTER DEN LINDEN ROMAN VON CHARLOTTE ROTH Copyright © 2019 Verlagsgru­ppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München

Fortsetzun­g folgt

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