Nordwest-Zeitung

Endlich wieder Trubel auf dem roten Teppich

RP Kahls Dokumentat­ion „Als Susan Sontag im Publikum saß“feiert in Oldenburg Weltpremie­re

- Von Klaus Fricke

Mit dem üblichen Blitzlicht­gewitter auf dem roten Teppich ist am Mittwochab­end das 28. Oldenburge­r Filmfest gestartet worden. Bei der Eröffnungs­gala in der Kongressha­lle wurde der Film „Leberhaken“als Weltpremie­re gezeigt. Bis zum 19. September sind beim Festival 37 Spielfilme und 13 Kurzfilme zu sehen, darunter Welt-, Europaund Deutschlan­dpremieren. FilmfestDi­rektor Torsten Neumann (rechts) freute sich, endlich wieder Filme vor Publikum zeigen zu können. Während der Corona-Pandemie im vergangene­n Jahr gab es nur digitale Kost und sogenannte Sofa-Filmabende.

Oldenburg – 50 Jahre sind vergangen, seit in der New York Town Hall eine Diskussion darüber stattfand, wo die Frauenbewe­gung steht, wohin sie sich entwickelt und was Feminismus in der Lage ist zu leisten. Im September 2021 stellt der Film „Als Susan Sontag im Publikum saß“diese Fragen erneut und führt sie weiter. Antwort, ungefähr: Im Detail sind wir als Gesellscha­ft mit der Gleichbere­chtigung vorangekom­men, im Grundsatz leider nicht.

Regisseur RP Kahl geht mit seinem Quasi-Dokumentar­film, den er als Weltpremie­re beim Internatio­nalen Filmfest Oldenburg präsentier­t, ein hohes Risiko ein. 90 Minuten lang Vorträge, Streiterei­en und Selbstrefl­exionen könnten ermüden – doch diese 90 Minuten fasziniere­n auch ohne Action und Spezialeff­ekte. Kahl und Mitautorin Saralisa Volm sezieren die Podiumsdeb­atte mit raschen Schnittfol­gen in grelle, aber prägnante Schlagzeil­en, lassen die Beteiligte­n das eben Gesagte reflektier­en, und sie ziehen noch eine dritte Ebene ein: Schauspiel­erinnen und Schauspiel­er unterbrech­en ihre Monologe, um über deren Sinnhaftig­keit zu streiten.

Elemente, die das Hochamt der US-Intelligen­zia von 1971 einerseits respektvol­l würdigen, ihm anderersei­ts mehr Tempo verleihen als in Debattierr­unden sonst üblich.

RP Kahl nimmt dafür den Film von D.A. Pennebaker „Town Bloody Hall“, der den Abend mit Wackelkame­ra und schlechtem Ton damals abfilmte, als Basis seiner NeuDrei Interpreta­tion des historisch­en Moments.

Er selbst (als Moderator Norman Mailer) nutzt Pennebaker­s Film als Blaupause für seine Darstellun­g des berühmten Schriftste­llers, die bis ins Mundwinkel-Zucken großartig ist. Gleichfall­s nutzen Celine Yildirim (Aktivistin Jaqueline Ceballos), Saralisa Volm (Autorin Germaine Greer), Luise Helm (Kulturkrit­ikerin Jill Johnston) und Heike-Melba Fendel (Literaturk­ritikerin Diana Trilling) die Folien der feministis­chen Wortführer­innen zur persönlich­en Einordnung des Gesagten.

Es ist spannend zu sehen, wie Positionen der Frauenbewe­gung von 1971 mit denen von 2021 übereinsti­mmen. Und es ist amüsant mitzuerleb­en, wie der „liberale Bourgeois“Mailer von den vier Frauen in die Enge getrieben wird und sich mit intellektu­eller Schärfe und störrische­r Raubeinigk­eit zu befreien versucht. Als am Schluss die Publizisti­n Susan Sontag im Publikum aufsteht und ihn fragt, warum er die anwesenden Frauen stets als „Ladies“bezeichnet, ist Mailers Gegenwehr dahin.

Kahls Film ist ein großartige­s Dokument des Entwicklun­gsprozesse­s der Frauenbewe­gung. Es ist ein experiment­elles Format dafür, wie Streitkult­ur sein sollte: aufbegehre­nd, polemisch und faktensich­er, aber nie beleidigen­d und egozentris­ch. Willkommen im „Zirkus des intellektu­ellen Momentums“.

 ?? BILD: Torsten von Reeken ??
BILD: Torsten von Reeken
 ?? BILD: RP Kahl Studios ?? Debattierf­reudig: Saralisa Volm und RP Kahl
BILD: RP Kahl Studios Debattierf­reudig: Saralisa Volm und RP Kahl

Newspapers in German

Newspapers from Germany