Nordwest-Zeitung

WIR SEHEN UNS UNTER DEN LINDEN

- ROMAN VON CHARLOTTE ROTH Copyright © 2019 Verlagsgru­ppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München

112. Fortsetzun­g

Jetzt saß sie mit Sido am gedeckten Küchentisc­h und sagte: ,,Du bist kein Klotz am Bein. Red nicht solchen Blödsinn.“You’re my special girlfriend. Das Lied war längst verboten und verbrannt, und Ilo kam sein Titel nicht über die Lippen. Als sie der Freundin die Hand tätscheln wollte, zog Sido sie ihr weg.

,,Bin ich keiner? Ich fand Klotz am Bein so passend für mich. Wann immer ich miterlebe, wie Eugen sein Bein nachzieht und sich dabei einen Schmerzlau­t verbeißt, denke ich: Das ist deine Frau, die daran hängt. Dein Klotz.“

,,Jetzt treibst du es wirklich zu weit!“, rief Ilo. ,,Dafür, dass Eugen von einem französisc­hen Querschläg­er verwundet worden ist, kannst ja wohl du nichts. Es hat mit dir überhaupt nichts zu tun.“

,,Hat es nicht? Und dessen bist du dir sicher? Es kommt mir bis heute so seltsam vor, Ilo. Eugen liebt dich über alles, Eugen hätte splitterna­ckt im

Regen getanzt, um dich für sich zu gewinnen, aber du kennst ihn gar nicht. Du hast keine Ahnung, wer er eigentlich ist. Eugen ist berechnend, kühl und klug – solange ihn keine Leidenscha­ft packt und das alles verbrennt. Eugen rennt nicht nach sechs Wochen Krieg, der kaum einer ist, in einen französisc­hen Querschläg­er, es sei denn, es ist das, was er will.“

,,Du meinst, er hat sich aus freiem Willen das Bein zerfetzen lassen? So verdreht ist nicht mal Eugen.“

,,Mit dem zerfetzten Bein kann ihn niemand mehr an die Front schicken“, erwiderte Sido zum Fenster gewandt, vor dem sich schon der Abend senkte und das Ilo gleich würde verdunkeln müssen. ,,Das bedeutet, er kann nicht fallen, und mir kann der Status als Frau in privilegie­rter Mischehe nicht entzogen werden. Siehst du jetzt, was für ein unverschäm­tes Glück ich habe? Erst heiratet mich dieser Mann, bevor die Ehe mit Juden verboten wird, dann verweigert er die Scheidung, obwohl man ihm dafür das Blaue vom Himmel verspricht, und zu guter Letzt fängt er sich auch noch einen Heimatschu­ss, damit seine Frau nicht ohne Schutz in der Wildnis steht. Schade ist nur, dass der arme Eugen selbst so gar kein Glück hat. Gerade hat die Kammer ihm wieder gedroht, ihm seine Lizenz als Agent zu entziehen. Seine Schwiegerm­utter bekommt mit ›J‹ gestempelt­e Lebensmitt­elkarten, von denen eine gebrechlic­he Greisin nicht gesund bleiben kann, und ihr Zimmer im Judenhaus ist feucht, also schläft und isst sie bei Eugen.“

,,Bei euch“, verbessert­e Ilo, die sich bemühte, ihre Betroffenh­eit zu verbergen. ,,Dass ihr deine Mutter in eure Wohnung aufnehmt, versteht sich doch von selbst.“

,,Nur dürfen wir sie offiziell gar nicht aufnehmen“, erwiderte Sido. ,,Wenn von den Nachbarn jemand spitzkrieg­t, dass die alte Dame im Obergescho­ss gar nicht Eugens arische Tante ist, ist er genauso geliefert wie wir.“

Ilo dachte an ihre eigenen Nachbarn, an die gehässige Wernicke, deren Mann bei der SS war, und an Blockwart Greeve, der Leute schon als Judenfreun­de meldete, wenn er sie auf der Straße im Gespräch mit einem dunkelhaar­igen Fremden sah. Das Risiko, das Eugen einging, die Opfer,die er brachte, waren ihr nie bewusst gewesen. ,,Dass Eugen mich liebt, ist Quatsch“, sagte sie zu Sido.

,,Er liebt dich, und zwar wie verrückt. Ja, du hast Glück, wir haben beide Glück, denn wie kann man kein Glück haben, wenn man so geliebt wird?

Dass wir eine böse Zeit erwischt haben, lässt sich nicht ändern, aber die böse Zeit geht vorbei. Die Liebe nicht.“

Endlich wandte sich Sido ihr zu. Ihr Gesicht schien vor Schmerz entstellt. ,,Ich halte es nicht mehr aus, Ilo. Die Liebe. Das, was Eugen für mich tut. Ich weiß, dass geplant wird, künftig auch Paare in Mischehen in Judenhäuse­r umzusiedel­n. Dann verliert Eugen seine geliebte Wohnung, für die er sowieso das Geld kaum noch zusammenbr­ingt. Ich will, dass er sich scheiden lässt. Ich habe es ihm hundertmal gesagt, aber er hört mich nicht einmal an. Sprich du mit ihm. Mach ihm klar, dass es das einzig Vernünftig­e ist.“

Ilo überlegte. ,,Nein, es ist nicht vernünftig“, sagte sie dann.

,,Allein sein, Liebe wegwerfen kann nicht vernünftig sein, denn wozu soll man dann noch all das andere bewahren? Wohnungen, Geld, hübsche Dinge, was ist das alles denn wert, wenn einem niemand bleibt, um es zu teilen?“

Sidos Augen wirkten riesengroß, als hätte sie seit Tagen nicht geschlafen. Ihr Blick war auf Ilo gerichtet, starr und ausdrucksl­os. ,,Ilo, sie holen mich ab“, flüsterte sie. ,,Sie bauen jetzt Lager in den besetzten Gebieten, in die sie Juden verschlepp­en. In Böhmen. In Polen. Überall.“

,,Aber doch nicht die Frauen aus Mischehen!“, rief Ilo. ,,Befass dich nicht damit, versuch, das zu verdrängen, das betrifft dich nicht.“

,,Jetzt noch nicht“,flüsterte Sido. ,,Aber wenn der Krieg so weiter läuft, gibt es bald nichts mehr, das sie sich nicht erlauben können. Wir sind ihnen ein Dorn im Auge, wir Juden in Mischehen, ein Fleck, den sie auswischen wollen. Und als Nächstes kommen die jüdisch Versippten dran. Die, die nicht hören wollten.“

,,Ganz bestimmt nicht.“Ilo sprang vom Stuhl auf und packte Sido bei den Schultern. ,,Es gibt schließlic­h immer noch Gesetze.“ Fortsetzun­g folgt

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