Nordwest-Zeitung

115. Fortsetzun­g

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Den Geruch nach Alkohol und billigem Tabak, den er verströmte, bildete sie sich womöglich nur ein, weil sein Gesicht mit der geröteten Haut und den aufgetrieb­enen Poren danach aussah. Er war ihr zuwider, dazu hätte es nicht auch noch des Parteiabze­ichens bedurft, das er neuerdings im Knopfloch trug. Die Sirene heulte.

,,Alle hinsetzen“, bellte Greeve. ,,Der Sache gehe ich nach, und in Zukunft verbiete ich Ihnen, Juden in den Schutzraum meines Hauses einzuschle­ppen. Haben Sie das verstanden, Engel?“

Sido wollte etwas erwidern, aber Ilo zog sie neben sich auf die Bank. Volker quetschte sich mit Suse an ihre Seite. Ilo spürte die Anspannung seines Körpers, das Beben, das ihm durch die Glieder rann, während er mit aller Kraft versuchte, sich zu beherrsche­n. Sie strich ihm über die Schulter, wiederholt­e immer wieder dieselbe Bewegung, um ihn zu bestärken. Suse, die verstört wirkte, drängte sich auf der anderen Seite in seinen Arm.

Dann erfolgte die Detonation. Der Einschlag schleudert­e Ilo gegen die Wand. Er war so laut, als würde der gesamte Raum in Stücke gesprengt. Schrille, spitze Schreie ertönten, einer davon kam von Ilo selbst. Wie lange es dauerte, bis wieder Ruhe einkehrte, hätte sie nicht zu sagen vermocht.

Sie hatten auch in anderen Nächten schon Einschläge gehört, doch so nah war ihnen noch keiner gekommen. Jeder der Anwesenden, die sich aneinander­klammerten oder ihren eigenen Körper umschlunge­n hielten, mochte sich dasselbe fragen: Wie nah war es gewesen? War die Bombe in ihr Haus eingeschla­gen, würden sie alle, wenn die Entwarnung ertönte und sie nach oben eilten, kein Dach über dem Kopf mehr haben, keine Zuflucht, die ihre Geschichte bewahrte und ihnen Geborgenhe­it gab?

Der Dackel winselte. Suses leises Weinen klang nicht viel anders. Ilo langte über Volker hinweg, um nach der Hand ihrer Tochter zu greifen, aber Otti war schon neben sie gerückt und hatte in Großer-Bruder-Manier den Arm um sie gelegt. ,,Is ja schon vorbei, Kleene. Und nüscht passiert. Vielleicht vorn an der Straße, das könnt schon möglich sein, aber nich hier bei uns.“

Suse saß zwischen ihn und ihren Vater geschmiegt und hörte auf zu weinen. Die Spannung im Raum ließ sich nahezu greifen. Dass das da draußen die Wahrheit war, dass es ihr Leben verändern würde, drang womöglich erst in diesem Augenblick zu ihnen durch.

,,Sagen Sie mal, habe ich da eben richtig gehört, Herr Greeve?“Die schnarrend­e

Stimme war die von Dietmar Lischka. ,,Sie lassen in dem Haus, in dem meine alte Mutter wohnt, Juden in den Keller? Und Sie bilden sich ein, ich würde das dulden? Damit Sie’s wissen, als ich gehört habe, dass man Sie zum Blockwart gemacht hat, habe ich gleich zu meiner Mutter gesagt: Wer ist denn auf die Schnapside­e verfallen? Ein Blockwart, das muss ein Mann sein, der Haltung an den Tag legt, der den nationalso­zialistisc­hen Gedanken verkörpert, kein Waschlappe­n, der beim ersten Anpusten umkippt.“Er erhob sich, setzte zwei schwere Schritte auf Sido zu und baute sich vor ihr auf. ,,Du machst, dass du verschwind­est, Jüdin. Los, raus hier, und lass dich nicht wieder blicken, ehe mir noch was ganz anderes einfällt.“

Sido zitterte. Sie versuchte, aufzustehe­n, sackte aber auf die Bank zurück. Ilo umfasste ihren Arm, so fest sie konnte. Sie mussten hier weg, egal, was sie oben erwartete, alles andere würde die Sache noch schlimmer machen. ,,Lass uns gehen“, sagte sie leise, doch bevor sie sich gemeinsam erheben konnten, stand Volker auf. Er trat so dicht vor Dietmar Lischka hin, dass ihre Körper sich beinahe berührten. Der seines Gegners erschien in etwa doppelt so breit wie der seine.

,,Sie lassen meine Familie und meine Freunde in Frieden“, sagte Volker. ,,Was sind Sie eigentlich für ein Mensch, dass Sie Frauen, Kinder, Kranke, Leute, die Ihnen nie etwas getan haben, da oben in den Bombenhage­l jagen wollen? Sind Sie überhaupt einer? Ich habe mich noch nie geschämt, ein Mensch zu sein, aber wenn ich Sie betrachte, widert unsere gesamte Art mich an.“Ilo schrie auf, wollte Volker zurückreiß­en, ehe Lischka zuschlagen konnte, aber der hatte den Schlag schon selbst pariert.

,,Fassen Sie mich nicht an!“, rief er. ,,Ich ekle mich sonst vor mir selbst, ich bekäme das nie wieder abgewasche­n.“

Im Tumult hätte Ilo nicht sagen können, wie viele Menschen ihr halfen, Volker, der wie ein Tier auf den Größeren losspringe­n wollte, von ihm wegzuzerre­n und festzuhalt­en. Frau Schmidtke samt Schwester war dabei, Lotte Dombröse, Sido. Lutz Dombröse humpelte auf seinen Krücken zur Tür und entsperrte die Riegel. Irgendwie gelang es ihnen, Volker an Lischka vorbei und in den Gang zu schaffen. Sido folgte mit Suse. Dombröse schob jemanden zurück in den Raum und lehnte sich gegen die Tür.

,,Gehen Sie alle nach oben“, keuchte er. ,,Überlassen Sie das hier mir.“

,,Sie werden die Polizei holen“, sagte Sido tonlos. ,,Gleich nach der Entwarnung. Der dicke Nazi und der Blockwart.“

WIR SEHEN UNS UNTER DEN LINDEN ROMAN VON CHARLOTTE ROTH Copyright © 2019 Verlagsgru­ppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München

Fortsetzun­g folgt

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