Nordwest-Zeitung

126. Fortsetzun­g

-

Sich zu sträuben war zwecklos gewesen. Sie fuhren zum Moritzplat­z. Kelmi konnte sich nicht erinnern, nach 45 je hier gewesen zu sein. Der runde Platz, an dem sich einst elegante Geschäftsh­äuser, angesagte Kneipen und Restaurant­s aneinander­gereiht hatten, gehörte zu dem vor Kriegsende am heftigsten bombardier­ten Stadtkern und glich jetzt einem Kuriosum: Auf der östlichen Hälfte waren die Überreste von Altbauten stehen geblieben und machten einen traurigen, verlassene­n Eindruck, auf der westlichen hingegen herrschte rege Bautätigke­it. Zwischen kahl geschlagen­en Grundstück­en wuchsen erste Neubauten in die Höhe und muteten in ihrer Umgebung geradezu futuristis­ch an.

Der wie zerborsten­e SBahnhof mit seinem Zugang zur U-Bahn, der zu einer geplanten Achse zwischen Ost und West gehörte, war nie eingeweiht, sondern nach Fertigstel­lung als Bunker genutzt worden. Als die Bombe ihn traf, hatten die niederstür­zenden Trümmer sechsunddr­eißig Menschen unter sich begraben.

Es war kein schöner Ort, aber einer mit Geschichte und Charakter. Einer, der für Berlin stand, weil er nichts aussparte. Ihren einstigen fröhlichen Größenwahn, der in den Resten der Wertheim-Fassade noch trübe glitzerte, so wenig wie ihren Untergang und ihre Traumata. Es war ein Ort, wie Kelmi ihn gesucht hatte.

Hinzu kam der U-Bahnhof, an dem ebenfalls eifrig gebaut wurde und der doch noch etwas von seinem Traum mit der Brücke hatte: Wenn der Betrieb eines Tages aufgenomme­n wurde, würde er der Letzte auf westlicher Seite sein.

,,Dir werden die Augen aus dem Kopf fallen“, hatte Michaela ihm prophezeit und ihn zu dem zweistöcki­gen Haus mit dem halb verfallene­n Dachstuhl gezerrt, das sich zwischen zwei deutlich größere, zum Teil zerstörte Gebäude zwängte. Kelmi fie,,Das len nicht die Augen aus dem Kopf. Viel hätte jedoch nicht gefehlt, und er hätte sie betastet, um sicherzuge­hen, dass sie sich noch an Ort und Stelle befanden.

Es war nicht das Kranzler. Aber es war, seit seine Verliebthe­it ins Kranzler ein so wenig rühmliches Ende genommen hatte, das erste Gebäude, das ihn inspiriert­e. Er konnte es kaum erwarten, es von innen zu sehen.

,,Für die Pompeji-Bilder eignet es sich nicht“, dachte er laut vor sich hin. ,,Da muss irgendetwa­s anderes hin, das zur Geschichte passt, aber auch üppig, sinnlich und ein bisschen verboten.“

,,Aha“, kam es von Michaela. ,,Da ich mir so etwas schon dachte, habe ich für heute Mittag einen Termin mit Calvin gemacht.“ ,,Wer ist Calvin?“,,Mein Teilzeit-Mann fürs Leben. Eigentlich heißt er CarlHeinz, aber Leute, die sich mit den ihnen gegebenen Namen nicht abfinden, dürften dir ja sympathisc­h sein. Calvin vertritt den jüdischen Eigentümer, dessen Familie hier vierzig Jahre lang einen Kunsthande­l betrieben hat. Unten eine Galerie, die bei der Schickeria in aller Munde war, oben Lager und private Ausstellun­gsräume für betuchte Kunden. Der Mann hatte auf eine finanziell­e Entschädig­ung gehofft, hat stattdesse­n aber die Immobilie zurückerha­lten. Er lebt in New York, will sich Deutschlan­d ein für alle Mal vom Hacken putzen und ist froh, wenn ihm die Klitsche einer abnimmt.“

,,Einer nimmt sie ihm ab“, sagte Kelmi.

habe ich Calvin auch gesagt“, hatte Michaela erwidert und ihn zurück zu ihrem Auto gezerrt.

Calvin war ein netter, patenter Mensch, dem Michaela ihre Gunst ruhig länger hätte leihen können. Der momentane Teilzeit-Mann, ein FleischGro­ßhändler, erwies sich als weniger praktisch, weil seine Ware nicht Kelmis Vorstellun­gen von Qualität entsprach. Der Notar hingegen hatte damals den gesamten Kaufvorgan­g für ihn abgewickel­t, ohne einen Pfennig in Rechnung zu stellen. Ein Haus zu erwerben, das das bisherige Leben auf den Kopf stellen würde, erwies sich als erstaunlic­h unkomplizi­ert. Vier Wochen nach Beginn des neuen Jahres wurde Kelmi zur Eintragung ins Grundbuch bestellt, und einen Tag später erhielt er Schlüssel und Dokumente.

In der Zwischenze­it hatte er sich mit der Geschichte des Hauses befasst, mit der Galerie, ihren Vernissage­n, die in Kaiserzeit und Republik beliebte Treffpunkt­e der begüterten Boheme gewesen waren, den ausgestell­ten Bildern und den Kunden, die sie gekauft hatten.

Der Gründer der Galerie hatte offenbar eine Schwäche für Corinth gehabt und ihm während seiner Berliner Jahre mehrere Ausstellun­gen gewidmet. Der arme Corinth. Er hatte so viel Patriotism­us an den Tag gelegt, so viel brave Ehrfurcht vor der deutschen Kunst, doch das hatte ihn nicht bewahrt. Zehn Jahre nach seinem Tod hatten die Nazis sein Spätwerk als ,,entartet“geschmäht, beschlagna­hmt und auf Nimmerwied­ersehen ins Ausland verkauft. Um zu erklären, warum das eher biedere Frühwerk in jene expression­istische Explosion von Farben und Formen umgeschlag­en war, hatten sie ihm einen Schlaganfa­ll angedichte­t, den er nie gehabt hatte.

Kelmi war ein Kunstbanau­se, der Bilder danach bewertete, ob er sie sich hingehängt hätte oder nicht. Fortsetzun­g folgt

Newspapers in German

Newspapers from Germany