Wahl trifft Buchhandel unvorbereitet
Literaturnobelpreis für weitgehend unbekannten Tansanier Abdulrazak Gurnah
Stockholm – Die Spannung lässt sich beinahe greifen im alten Börsenhaus in der Stockholmer Altstadt Gamla Stan: Wenige Augenblicke vor der wichtigsten literarischen Bekanntgabe des Jahres wird es ganz still im Saal, dann ist ein leises Klingeln zu hören. Mats Malm, der Ständige Sekretär der Schwedischen Akademie, tritt durch eine schwere Holztür vor die Weltpresse, um den Literaturnobelpreisträger zu verkünden. Was er diesmal liefert, ist eine faustdicke Überraschung: Abdulrazak Gurnah heißt der in Deutschland weitgehend unbekannte tansanische Schriftsteller, der in diesem Jahr mit dem prestigeträchtigsten Preis der Literaturwelt ausgezeichnet wird.
Gurnah wurde 1948 auf der Insel Sansibar geboren, die zur früheren britischen Kolonie Tansania gehört, und kam als Flüchtling Ende der 60er Jahre nach Großbritannien, wo er seither lebt. Er erhält den Preis „für sein kompromissloses und mitfühlendes Durchdringen der Auswirkungen des Kolonialismus und des Schicksals des Flüchtlings in der Kluft zwischen Kulturen und Kontinenten“, wie Malm bei der Bekanntgabe sagte.
Fünf Bücher auf Deutsch
Selbst in Literaturkreisen haben bislang nur wenige etwas von dem Preisträger gehört. Auch den deutschen Buchhandel traf die Auszeichnung unvorbereitet: Die fünf ins Deutsche übersetzten Bücher von Gurnah sind derzeit allesamt nicht lieferbar. Er hat
der Schwedischen Akademie zufolge zehn Romane veröffentlicht, außerdem eine Reihe von Kurzgeschichten.
Gurnah begann nach Angaben der Akademie als 21-Jähriger mit dem Schreiben. Obwohl Suaheli seine Muttersprache ist, schreibe er seine Bücher auf Englisch. Auch Elemente aus anderen Sprachen wie Deutsch und Arabisch spielten in seinem Werk eine wichtige Rolle, sagte der Vorsitzende des Nobelkomitees der Akademie, Anders Olsson. Gurnahs vierter Roman „Paradise“von 1994, in Deutschland
erschienen als „Das verlorene Paradies“, brachte ihm den Durchbruch als Schriftsteller. Gerade der Fokus auf das Schicksal von Flüchtlingen macht seine Werke topaktuell.
Genauer Beobachter
„Er ist ein Autor, der sehr stille Bücher schreibt, in einer sehr feinen, sehr genauen Sprache, mit sehr genauer Beobachtung seiner Figuren, ihres Innenlebens und auch dessen, was um diese Figuren und damit um den Autor herum vor sich geht“, sagte sein
deutscher Übersetzer Thomas Brückner. Er wünsche Gurnah nun mehr Aufmerksamkeit, „weil es wirklich ein lesenswerter Autor ist“.
Im Vorjahr war die US-Poetin Louise Glück mit dem Literaturnobelpreis geehrt worden. Während die Auswahl von Glück etwas unerwartet kam, ist die von Gurnah eine große Überraschung. Zu den Favoriten wurden prominentere Schriftsteller wie der Japaner Haruki Murakami oder die Kanadierinnen Margaret Atwood und Anne Carson gezählt.