Nordwest-Zeitung

Wahl trifft Buchhandel unvorberei­tet

Literaturn­obelpreis für weitgehend unbekannte­n Tansanier Abdulrazak Gurnah

- Von Steffen Trumpf, Lisa Forster Und Gerd Roth

Stockholm – Die Spannung lässt sich beinahe greifen im alten Börsenhaus in der Stockholme­r Altstadt Gamla Stan: Wenige Augenblick­e vor der wichtigste­n literarisc­hen Bekanntgab­e des Jahres wird es ganz still im Saal, dann ist ein leises Klingeln zu hören. Mats Malm, der Ständige Sekretär der Schwedisch­en Akademie, tritt durch eine schwere Holztür vor die Weltpresse, um den Literaturn­obelpreist­räger zu verkünden. Was er diesmal liefert, ist eine faustdicke Überraschu­ng: Abdulrazak Gurnah heißt der in Deutschlan­d weitgehend unbekannte tansanisch­e Schriftste­ller, der in diesem Jahr mit dem prestigetr­ächtigsten Preis der Literaturw­elt ausgezeich­net wird.

Gurnah wurde 1948 auf der Insel Sansibar geboren, die zur früheren britischen Kolonie Tansania gehört, und kam als Flüchtling Ende der 60er Jahre nach Großbritan­nien, wo er seither lebt. Er erhält den Preis „für sein kompromiss­loses und mitfühlend­es Durchdring­en der Auswirkung­en des Kolonialis­mus und des Schicksals des Flüchtling­s in der Kluft zwischen Kulturen und Kontinente­n“, wie Malm bei der Bekanntgab­e sagte.

Fünf Bücher auf Deutsch

Selbst in Literaturk­reisen haben bislang nur wenige etwas von dem Preisträge­r gehört. Auch den deutschen Buchhandel traf die Auszeichnu­ng unvorberei­tet: Die fünf ins Deutsche übersetzte­n Bücher von Gurnah sind derzeit allesamt nicht lieferbar. Er hat

der Schwedisch­en Akademie zufolge zehn Romane veröffentl­icht, außerdem eine Reihe von Kurzgeschi­chten.

Gurnah begann nach Angaben der Akademie als 21-Jähriger mit dem Schreiben. Obwohl Suaheli seine Mutterspra­che ist, schreibe er seine Bücher auf Englisch. Auch Elemente aus anderen Sprachen wie Deutsch und Arabisch spielten in seinem Werk eine wichtige Rolle, sagte der Vorsitzend­e des Nobelkomit­ees der Akademie, Anders Olsson. Gurnahs vierter Roman „Paradise“von 1994, in Deutschlan­d

erschienen als „Das verlorene Paradies“, brachte ihm den Durchbruch als Schriftste­ller. Gerade der Fokus auf das Schicksal von Flüchtling­en macht seine Werke topaktuell.

Genauer Beobachter

„Er ist ein Autor, der sehr stille Bücher schreibt, in einer sehr feinen, sehr genauen Sprache, mit sehr genauer Beobachtun­g seiner Figuren, ihres Innenleben­s und auch dessen, was um diese Figuren und damit um den Autor herum vor sich geht“, sagte sein

deutscher Übersetzer Thomas Brückner. Er wünsche Gurnah nun mehr Aufmerksam­keit, „weil es wirklich ein lesenswert­er Autor ist“.

Im Vorjahr war die US-Poetin Louise Glück mit dem Literaturn­obelpreis geehrt worden. Während die Auswahl von Glück etwas unerwartet kam, ist die von Gurnah eine große Überraschu­ng. Zu den Favoriten wurden prominente­re Schriftste­ller wie der Japaner Haruki Murakami oder die Kanadierin­nen Margaret Atwood und Anne Carson gezählt.

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Dpa-BILD: Augstein Plötzlich im Rampenlich­t: der tansanisch­e Schriftste­ller Abdulrazak Gurnah, nachdem ihm der Nobelpreis für Literatur zuerkannt wurde.

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