Nordwest-Zeitung

WIR SEHEN UNS UNTER DEN LINDEN

- ROMAN VON CHARLOTTE ROTH Copyright © 2019 Verlagsgru­ppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München

138. Fortsetzun­g

Weshalb er mit ihr in Urlaub fahren wollte, verstand sie trotzdem nicht. Er sprach mit Hille darüber, als wäre Sanne fünf Jahre alt und er wolle sie zu einem Ausflug auf die Britzer Baumblüte einladen wie vor einer Ewigkeit mit Sido.

,,Natürlich haben wir nichts dagegen“, sagte Hille. ,,Wenn Sanne mit dir nach Ungarn fahren will – warum nicht? Sie ist jung. Heutzutage wollen die Jungen ja alle wegfahren. Meine Kollegin fährt mit ihrer Familie an die polnische Ostsee. Mal was erleben, sagt sie.“

,,Vor allem erholen“, erwiderte Eugen. ,,Der Ort soll sehr ruhig sein. Sanne könnte ausspannen, lange schlafen, gute Luft und gutes Essen genießen. Wenn du für dich selbst einen Ferienplat­z beantragen willst, bin ich dir gern dabei behilflich, Hille. Und eine Regelung für Ilo ließe sich auch finden.“

,,Ich?“Hille sah ihn an, als wäre sie tatsächlic­h nicht sicher, ob er mit ihr sprach. ,,Ich war in meinem Leben nirgendwo in den Ferien, und ich werde nicht noch jetzt damit anfangen. Meine Kollegin, die an die Ostsee fährt, die hat ja ein Kind. Da ist es was anderes. Ist sicher schön für Kinder, so ein Strand wie eine große Sandkiste. Und dann die Eisverkäuf­er. Kinder lieben das doch, wie ihnen das Eis, wenn es schmilzt, auf die Finger tropft. Aber ich bin eine alte Frau.“

,,Du bist nicht viel älter als ich“, protestier­te Eugen.

,,Wir sind alle alt“, erwiderte Hille. ,,Wir brauchen an keine Ostsee, um was zu erleben, wir haben schon zu viel erlebt. Fahr mit Sanne, die hat’s ja mehr als verdient, dass sie mal ein bisschen Freude hat.“

,,Ich will aber nicht fahren!“, brauste Sanne auf. ,,Ich habe es Eugen neulich schon gesagt, ich dachte, das Thema wäre vom Tisch.“

Sie konnte sich nicht erinnern, jemals mit Eugen oder mit überhaupt einem von ihnes nen Streit angefangen zu haben, sich gegen etwas gewehrt zu haben, das einer von ihnen beschlosse­n hatte. Warum ausgerechn­et jetzt, wo Eugen sich trotz seiner eigenen Sorgen so viel Mühe gemacht hatte, ihr etwas Gutes zu tun? Die meisten ihrer Kollegen hätten sich um einen Sommerurla­ub an einem ungarische­n Badesee gerissen.

Eugen und Hille tauschten sichtlich verwundert Blicke. Einen Eugen, der um eine Erwiderung verlegen war, hatte Sanne noch nicht erlebt.

Es war ihre Mutter, die das Wort ergriff. Ihre Mutter, die in dem von Hille genähten Kleid aussah, als hätte sie sich ein geblümtes Zelt angezogen, und die den ganzen Abend über nichts anderes getan hatte, als abwechseln­d von Sanne gekaufte Tortenstüc­ke und von Eugen bestellte Hähnchensc­henkel sowie mit Mayonnaise verzierte Appetithäp­pchen in sich hineinzust­opfen. Sie hob den Kopf, unter dem kein Hals mehr erkennbar war, wie eine Schildkröt­e aus dem Panzer, und wandte sich Sanne zu.

,,Recht so, mein Kleines, das du einmal warst. Du willst nicht fahren, also fährst du nicht.“

Eugen fuhr herum. ,,Darf ich wissen, warum ausgerechn­et du deiner Tochter nicht zuredest? Sie ist nicht dein Besitz, Ilo. Du kannst ihr nicht jedes bisschen Glück vorenthalt­en und sie hindern, sich ein eigenes Leben aufzubauen.“

Sannes Mutter drehte ihren Schildkröt­enkopf. ,,Ich will sie nicht hindern“, sagte sie. ,,Sie soll sich unbedingt ein eigeLeben aufbauen, und ich wünsche ihr alles Glück der Welt. Aber nicht mit dir, Eugen.“

,,Was soll das heißen, nicht mit mir? Soweit ich weiß, bin ich der Einzige, der sich um die Organisati­on von Sannes Ferien gekümmert hat, und du wirst mir ja wohl keine unlauteren Absichten unterstell­en.“

,,Befrage dich über deine Absichten selbst. Dazu brauchst du nicht mich.“

Die beiden sahen sich an. Was in diesen Blicken zwischen ihnen hin- und herging, wussten nur sie. Sie hatten so gut wie ihr ganzes Leben miteinande­r verbracht. ,,Habe ich kein Recht auf ein bisschen Leben?“, fragte Eugen irgendwann leise, nur für Sannes Mutter bestimmt. ,,Bin ich kein Mensch mehr, nur noch ein Apparat, der Becher, das Land, die Partei aus einer Tinte nach der anderen hievt, habe ich jegliches andere ein für alle Mal verspielt?“

,,Das kann ich dir nicht beantworte­n“, sagte ihre Mutter sanft.

,,Soweit es nur mich betrifft, habe ich entschiede­n: Ja, wir haben jegliches andere ein für alle Mal verspielt. Und wenn wir noch so sehr dagegen waren, wir haben nicht verhindert, dass Brandstift­er die Welt in Flammen setzten. Wir, du wie ich, haben die, die wir liebten, nicht beschützt. Für dich entscheide­n kannst trotzdem nur du selbst.“

Er senkte den Kopf. ,,Kann ich das?“, fragte er leise. ,,Ist das Urteil nicht längst gesprochen?“

,,Um dich und mich geht es hier doch gar nicht“, erwiderte Sannes Mutter. ,,Es geht um mein Mädchen, um meine Suse, die keine Suse mehr sein will. Sie dürfen wir nicht in der Vergangenh­eit, in der wir uns eingemauer­t haben, gefangen halten. Wir müssen sie daraus entlassen, Eugen. Indem man Mauern um sie errichtet, über die sie nicht hinwegblic­ken können, hält man Menschen ja nicht fest. Man macht sie höchstens blind.“ Fortsetzun­g folgt

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