Ein Serienkiller mit Moral
Autor Stephen King kommt in „Billy Summers“ohne Horror aus
Wer sich vornimmt, als Neueinsteiger die Bücherwelt von Stephen King zu erkunden, der sieht sich einem unüberwindbar erscheinenden Gebirge gegenüber. Der US-Amerikaner, 1947 geboren, befindet sich seit seinem literarischen Debüt in den 1970er Jahren in einer fast ununterbrochenen Schreibmaschinerie. Was dabei mehr verblüfft, bleibt offen: Die enge Taktung der Veröffentlichungen oder die anhaltend hohe Qualität, einzelne Ausreißer gönnerhaft ausgeblendet.
Auch in letzter Zeit war der „King of horror“, wie er von seinen Fans genannt wird, wieder ausgesprochen fleißig. Kaum war „Später“ausgelesen, kündigte der Vielschreiber den nächsten Streich an. „Billy Summers“heißt das Werk, kommt in der von Bernhard Kleinschmidt ins Deutsche übertragenen Version auf stattlichen 717 Seiten daher und liefert das, was die Leserschaft an King so schätzt: Spannung und eine klug komponierte Handlung. Die wiederum, von einem kleinen Wink in Richtung „Shining“abgesehen, ohne Horror und Übersinnliches ihren Reiz hat.
Kriegsveteran Billy, dessen Leben zahlreiche Abzweigungen nahm und selten den direkten Weg kannte, hat sich vorgenommen, sein Schaffen als Auftragskiller zu beenden. Ein letzter Job soll es werden, ein ausgesprochen hoch dotierter obendrein. Danach soll Schluss sein mit dem Töten gegen Bezahlung, auch ein Mörder scheint ein Rentenalter zu kennen.
Summers hat seit jeher seine eigenen moralische Prinzipien: Er nimmt nicht jeden Job an, tötet nur die, die es aus verschiedenen Gründen aus seiner Perspektive verdient haben; schlechte Menschen eben.
Meisterhaft ist das, was King im ersten Handlungsstrang ausbreitet. Er nimmt sich Zeit für die Erzählung, die auf den Moment zusteuert, in dem Billy den Abzug betätigen wird, um die anvisierte Zielperson auszuschalten. Dass dieser Auftrag ihn an die Grenzen seiner Möglichkeiten treiben wird, beginnt er erst im weiteren Verlauf zu ahnen.
Bitter enttäuscht
Facettenartig wird geschildert, wie Billy in der langen Phase der Vorbereitung auf den finalen Schuss ein scheinbar ganz gewöhnliches Leben führt, sich einfügt in eine Gemeinschaft, selbst ein Teil von ihr wird. Wohl wissend, dass er die immer vertrauter werdenden Menschen am Ende bitter enttäuschen wird.
King beschränkt sich aber nicht auf den vermeintlich letzten Auftrag und seine Begleitumstände. Er lässt eine junge Frau hinzukommen, der schreckliches Leid widerfährt und die von Billy buchstäblich von der Straße gerettet wird.
Nun wird es doppelt kompliziert: Er wird zum Gejagten und muss sich entscheiden, ob er nur an sich oder auch an die junge Alice denken soll. Spannung und Intensität nehmen noch einmal zu, nebenher gibt es sogar noch ein Buch im Buch, denn der Protagonist ist damit befasst, seine eigene Lebensgeschichte niederzuschreiben.
Wo ist dieses Buch in Kings mittlerweile über 50-jährigen Autorenschaft einzuordnen? Die Hoffnung auf einen ganz großen Wurf wie „Es“dürfte sich einerseits kaum mehr erfüllen, andererseits hat der Familienvater immer wieder große Bücher vorgelegt.
Starkes Spätwerk
„Billy Summers“ist ein starkes Spätwerk, das mit Blick auf das letzte Jahrzehnt seiner Veröffentlichungen auf jeden Fall zu den besten gehört. Dass er eben kein ausschließlicher Horrorautor ist, hat er ohnehin hinlänglich bewiesen. Und das nächste Buch, das kommt gewiss.
Die Ballung geschichtlicher Ereignisse in diesem Roman gleicht einer Matrjoschka: die Katastrophe in der Katastrophe in der Katastrophe. Beim Zugunglück vor Genthin im ersten Kriegswinter sterben fast 200 Reisende, in den Abteilen Fronturlauber, Menschen in Vorweihnachtsstimmung, in Verlusttrauer oder in Zukunftsangst. Ob 1939 für die Deutschen der Anfang vom Ende war – oder 1933 oder 1919 – ist nebensächlich: tot ist tot.
Vor diesem historischen Hintergrund erzählt der gebürtige Genthiner Gert Loschütz eine großartige, bewegende Geschichte von Liebe und Verrat, für die der Romancier bereits mit dem Wilhelm Raabe-Literaturpreis ausgezeichnet wurde und es auf die Longlist des Deutschen Buchpreises schaffte.
Es sei ihm gegönnt, dass der 75-Jährige seinen literarischen Frühling im Herbst seiner Karriere erlebt. Doch warum erst jetzt? Man hätte es wissen müssen, dass es was wird mit dem Autor: Schon 1987 wurde er mit dem Oldenburger Kinder- und Jugendbuchpreis ausgezeichnet.
Dieses Buch bringt meine Zukunft in Gefahr! Wenn es so kommt (oder schon so ist), wie Dave Eggers beschreibt, wird die nächste Literaturkritik hier ein dressierter Affe schreiben oder die KI. Über „Der Circle“konnte ich noch schmunzeln, „Every“dagegen nehme ich persönlich. Die größte Social-MediaMaschine fusioniert mit dem erfolgreichsten Online-Händler zur Beherrschung der Gedankenwelt und der Kaufentscheidungen. Eggers malt die Zukunft nicht in Google-Farben, sondern rabenschwarz. Seine Superheldin heißt Delaney Wells, die die Datenkrake von innen bekämpft. Auf Unterstützung kann sie kaum hoffen, zu sehr haben wir uns als daten-freigiebige Konsumenten an den Candy-Shop des Internets gewöhnt. Wollen wir überhaupt frei sein?
Wen „Der Circle“nicht verschreckt hat, der wird auch „Every“lieben. Mit dem ersten Roman hat Dave Eggers die Lawine losgetreten, mit dem Nachfolger räumt er auch noch alle Schutzmaßnahmen zur Seite. Wir starren gebannt auf das, was da kommt und sich Zukunft nennt, die Künstliche Intelligenz. An dieser Stelle muss ich jetzt schließen: Der Algorithmus hat mitgeteilt, dass längere Text von ihnen nicht gewollt sind.