„Das Virus verzeiht nicht den kleinsten Fehler“
Warum Ärztekammer-Präsidentin Wenker eine Überlastung des Gesundheitssystems befürchtet
Frau Dr. Wenker, wie ist die Situation in den Krankenhäusern? Haben wir die Lage überhaupt noch unter Kontrolle? Wenker: Die Bilder aus Bayern und Sachsen sind sehr besorgniserregend. Dort sind die Intensivstationen voll, und es müssen sogar Patienten nach Südtirol verlegt werden. Das kann auch bei uns im Norden passieren. Ein Grund ist: Die Pflegekräfte sind nach 20 Monaten Kampf gegen Corona am Ende, und wir haben noch nicht einmal mehr genug Personal für die normale Versorgung. Ich sehe mit großer Sorge in die nächsten Wochen.
Wie viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter fehlen denn? Wenker: Schon vor Corona hatten wir einen Pflegenotstand. Der hat sich jetzt deutlich verschärft. In vielen Kliniken stellt sich jeden Tag neu die Frage: Welche OP können wir überhaupt noch durchführen?
Also brauchen wir strengere Regeln für den Alltag? Wenker: Ja natürlich! Die von der Bund-Länder-Gruppe beschlossenen Maßnahmen sind ja nicht neu, aber sie müssen ganz schnell eingeführt und so konsequent wie möglich durchgehalten werden. Das reicht von der 2G-Regel für den Restaurant-Besuch über die Testpflicht in Altenund Pflegeheimen, bis hin zum Homeoffice und zu Ausgangsbeschränkungen für Ungeimpfte.
Wollen Sie eine Ausgangssperre für Ungeimpfte? Wenker: Im Moment noch nicht, aber wir sollten über das Instrument nachdenken. Schon im Juli habe ich vor einem „Lockerungs-Wettlauf “gewarnt. Doch leider gab es den – bis hin zur Forderung nach einem „Freedom Day“. Das ist aus Sicht einer Krankenhaus-Ärztin maximal frustrierend. Jetzt ist die vierte Welle da, und wir haben nur mit maximaler Konsequenz die Chance, das zu verhindern, was gerade in Bayern und Sachsen passiert. Das Virus verzeiht nicht den kleinsten Fehler.
Es gibt Überlegungen, die 2GRegel auch für Kinder und Jugendliche ab zwölf Jahren anzuwenden. Was sagen Sie? Wenker: Ich sehe erst einmal die Erwachsenen in der Pflicht, sich impfen zu lassen. Da haben wir noch viel Luft nach oben.
Was halten Sie von einer allgemeinen Impfpflicht, die unter anderem der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach oder Junge-Union-Chef Tilman Kuban fordern?
Wenker: Die Impfpflicht für Gesundheitsfachberufe sollte in jedem Fall kommen. Die Politik steht in der Pflicht, auch über eine allgemeine Impfpflicht nachzudenken.
Am Mittwoch tritt in Niedersachsen eine neue Corona-Verordnung in Kraft. Wichtigster Maßstab soll die Hospitalisierungs-Inzidenz sein. Das gilt als umstritten, weil bei der Einweisung ins Krankenhaus die Infektion etwa zehn Tage zurückliegt. Was meinen Sie? Wenker: Besser wäre es, sich weiterhin an der Inzidenz, also der Zahl der Neuinfektionen pro 100 000 Einwohner binnen sieben Tagen, zu orientieren. Diese Zahl sagt mit recht hoher Treffgenauigkeit, wie gefährlich die Infektionslage ist. Und man kann daraus ableiten, was in zwei Wochen auf die Kliniken zukommen wird. Weitere Parameter gern, aber nur auf einer soliden Datenbasis. Das scheint bei der Hospitalisierungsrate noch nicht der Fall zu sein.