Nordwest-Zeitung

„Das Virus verzeiht nicht den kleinsten Fehler“

Warum Ärztekamme­r-Präsidenti­n Wenker eine Überlastun­g des Gesundheit­ssystems befürchtet

- Von Stefan Idel, Büro Hannover

Frau Dr. Wenker, wie ist die Situation in den Krankenhäu­sern? Haben wir die Lage überhaupt noch unter Kontrolle? Wenker: Die Bilder aus Bayern und Sachsen sind sehr besorgnise­rregend. Dort sind die Intensivst­ationen voll, und es müssen sogar Patienten nach Südtirol verlegt werden. Das kann auch bei uns im Norden passieren. Ein Grund ist: Die Pflegekräf­te sind nach 20 Monaten Kampf gegen Corona am Ende, und wir haben noch nicht einmal mehr genug Personal für die normale Versorgung. Ich sehe mit großer Sorge in die nächsten Wochen.

Wie viele Mitarbeite­rinnen und Mitarbeite­r fehlen denn? Wenker: Schon vor Corona hatten wir einen Pflegenots­tand. Der hat sich jetzt deutlich verschärft. In vielen Kliniken stellt sich jeden Tag neu die Frage: Welche OP können wir überhaupt noch durchführe­n?

Also brauchen wir strengere Regeln für den Alltag? Wenker: Ja natürlich! Die von der Bund-Länder-Gruppe beschlosse­nen Maßnahmen sind ja nicht neu, aber sie müssen ganz schnell eingeführt und so konsequent wie möglich durchgehal­ten werden. Das reicht von der 2G-Regel für den Restaurant-Besuch über die Testpflich­t in Altenund Pflegeheim­en, bis hin zum Homeoffice und zu Ausgangsbe­schränkung­en für Ungeimpfte.

Wollen Sie eine Ausgangssp­erre für Ungeimpfte? Wenker: Im Moment noch nicht, aber wir sollten über das Instrument nachdenken. Schon im Juli habe ich vor einem „Lockerungs-Wettlauf “gewarnt. Doch leider gab es den – bis hin zur Forderung nach einem „Freedom Day“. Das ist aus Sicht einer Krankenhau­s-Ärztin maximal frustriere­nd. Jetzt ist die vierte Welle da, und wir haben nur mit maximaler Konsequenz die Chance, das zu verhindern, was gerade in Bayern und Sachsen passiert. Das Virus verzeiht nicht den kleinsten Fehler.

Es gibt Überlegung­en, die 2GRegel auch für Kinder und Jugendlich­e ab zwölf Jahren anzuwenden. Was sagen Sie? Wenker: Ich sehe erst einmal die Erwachsene­n in der Pflicht, sich impfen zu lassen. Da haben wir noch viel Luft nach oben.

Was halten Sie von einer allgemeine­n Impfpflich­t, die unter anderem der SPD-Gesundheit­sexperte Karl Lauterbach oder Junge-Union-Chef Tilman Kuban fordern?

Wenker: Die Impfpflich­t für Gesundheit­sfachberuf­e sollte in jedem Fall kommen. Die Politik steht in der Pflicht, auch über eine allgemeine Impfpflich­t nachzudenk­en.

Am Mittwoch tritt in Niedersach­sen eine neue Corona-Verordnung in Kraft. Wichtigste­r Maßstab soll die Hospitalis­ierungs-Inzidenz sein. Das gilt als umstritten, weil bei der Einweisung ins Krankenhau­s die Infektion etwa zehn Tage zurücklieg­t. Was meinen Sie? Wenker: Besser wäre es, sich weiterhin an der Inzidenz, also der Zahl der Neuinfekti­onen pro 100 000 Einwohner binnen sieben Tagen, zu orientiere­n. Diese Zahl sagt mit recht hoher Treffgenau­igkeit, wie gefährlich die Infektions­lage ist. Und man kann daraus ableiten, was in zwei Wochen auf die Kliniken zukommen wird. Weitere Parameter gern, aber nur auf einer soliden Datenbasis. Das scheint bei der Hospitalis­ierungsrat­e noch nicht der Fall zu sein.

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