Unerschrockener Kampf für Freiheit
Bisweilen sind alte Texte, mit denen ich mich ja von Berufswegen befasse, beklemmend gegenwärtig. Vor zwei Wochen habe ich Heines bösen Vierzeiler über die Realitätsblindheit seiner deutschen Landsleute zitiert. Viel jünger, aber jetzt auch schon über 50 Jahre alt, sind die Schriften des 1883 in Oldenburg geborenen und familiär tief im Oldenburger Land verwurzelten Psychiaters und Philosophen Karl Jaspers.
Mitte der 1960er Jahre wurde in der Bundesrepublik die Gesetzgebung für den „Notstand“heiß diskutiert: Im Spannungs-, Katastrophen- und Verteidigungsfall sollten der Bund und die Länder ermächtigt werden, mit Notverordnungen zu regieren und Grundrechte außer Kraft zu setzen.
Das Paket, das 1968 mit der grundgesetzändernden Mehrheit der Großen Koalition im Bundestag beschlossen wurde, traf auf den erbitterten Widerstand von weiten Teilen der Bevölkerung, vor allem unter Studenten, und verschaffte der APO regen Zulauf.
Von Basel aus kritisierte auch Karl Jaspers unermüdlich die Notstandsgesetze, die für ihn die freiheitliche Ordnung unterhöhlten und den Weg in eine neue Diktatur bahnten. „Wohin treibt die Bundesrepublik?“, fragte der Emeritus in einem 1966 erschienenen Spiegel-Artikel und in einem gleichnamigen Buch.
Die Antwort lag für ihn auf der Hand:
Die Parteienoligarchie habe die parlamentarische Demokratie abgelöst, und jetzt sei eben die Diktatur im Begriff, die Parteienoligarchie abzulösen. Vorbehaltlos trat Jaspers für die individuelle Freiheit ein und geißelte ein Sicherheitsdenken, das sie zu ersticken drohte: Die „absolute Sicherheit“, schrieb er an SpiegelHerausgeber Rudolf Augstein, wie er ein Kritiker der Gesetze, werde „am Ende die grösste Unsicherheit und vorher die politische Kirchhofsruhe“.
Bereits als junger Professor in Heidelberg hatte Jaspers die Freiheit über alles hochgehalten. Als man in der Fakultät 1924 versuchte, dem pazifistischen Whistleblower Emil Julius Gumbel, einem Mathematiker, den Stuhl vor die Tür der Universität zu stellen, stimmte Jaspers als einer von zwei Professoren gegen die Suspendierung.
Ein Dozent, schrieb Jaspers später, der „als Staatsbürger nicht seinen Ueberzeugungen folgen“dürfe, verliere seine Wissenschaftsfreiheit und damit die elementare Voraussetzung für jede akademische Tätigkeit.
Und als man in der jungen Bundesrepublik heftig über den von Konrad Adenauer eingeschlagenen Kurs der Westintegration diskutierte, stritt Jaspers mit Leidenschaft für diesen Weg. Die Freiheit sei durch den totalitären Kommunismus so in ihren Grundfesten bedroht, dass die einzige Hoffnung im solidarischen Zusammenstehen des Westens liege. Westdeutschlands Zukunft sei im Lager Amerikas, jedem deutschen Sonderweg erteilte Jaspers nach der Erfahrung mit zwölf Jahren NS-Diktatur eine kategorische Absage. Der Realismus verlange es sogar, dass man sich vom Ziel deutscher Einheit verabschiede: Besser als das illusorische Festhalten daran sei die Anerkennung der DDR gegen die Zusicherung freier Wahlen im Osten.
Jaspers war sich bewusst, dass auch er vor einem allzu idealistischen Blick auf die Dinge nicht gefeit war. „In der Tat bin ich bei allem guten Willen zum Realismus ein Träumer“, schrieb er an Augstein. Dennoch sollte man seinen unerschrockenen Kampf für die Freiheit nicht als wirklichkeitsfremde Marotte eines zerstreuten Professors abtun.
Wie wohl Jaspers auf die Debatten des Jahres 2021 blicken würde? Wie etwa würde er den Streit um die Impfpflicht bewerten? Wie das Durchregieren der Exekutive im Corona-Notstand?
Was würde Jaspers zu den Bedrohungen sagen, die der Freiheit aus den Tiefen des Internets drohen, aus den sozialen Medien samt Fake News, Shitstorms und Filterblasen? Was zum Meinungsklima an amerikanischen, britischen und zunehmend auch an den deutschen Universitäten? Wie würde er die Gefahr bewerten, die von alten und neuen Totalitarismen ausgeht, seien sie nun rechts- oder linkstotalitär, islamistisch oder digital-totalitär wie in der Volksrepublik China?
„May he live in interesting times“, hat der frühere US-Senator Robert Kennedy einst einen chinesischen Fluch zitiert. Jaspers lebte in interessanten Zeiten. Wir tun es auch.