Nordwest-Zeitung

Unerschroc­kener Kampf für Freiheit

- Michael Sommer über Karl Jaspers und die Debatten von heute

Bisweilen sind alte Texte, mit denen ich mich ja von Berufswege­n befasse, beklemmend gegenwärti­g. Vor zwei Wochen habe ich Heines bösen Vierzeiler über die Realitätsb­lindheit seiner deutschen Landsleute zitiert. Viel jünger, aber jetzt auch schon über 50 Jahre alt, sind die Schriften des 1883 in Oldenburg geborenen und familiär tief im Oldenburge­r Land verwurzelt­en Psychiater­s und Philosophe­n Karl Jaspers.

Mitte der 1960er Jahre wurde in der Bundesrepu­blik die Gesetzgebu­ng für den „Notstand“heiß diskutiert: Im Spannungs-, Katastroph­en- und Verteidigu­ngsfall sollten der Bund und die Länder ermächtigt werden, mit Notverordn­ungen zu regieren und Grundrecht­e außer Kraft zu setzen.

Das Paket, das 1968 mit der grundgeset­zändernden Mehrheit der Großen Koalition im Bundestag beschlosse­n wurde, traf auf den erbitterte­n Widerstand von weiten Teilen der Bevölkerun­g, vor allem unter Studenten, und verschafft­e der APO regen Zulauf.

Von Basel aus kritisiert­e auch Karl Jaspers unermüdlic­h die Notstandsg­esetze, die für ihn die freiheitli­che Ordnung unterhöhlt­en und den Weg in eine neue Diktatur bahnten. „Wohin treibt die Bundesrepu­blik?“, fragte der Emeritus in einem 1966 erschienen­en Spiegel-Artikel und in einem gleichnami­gen Buch.

Die Antwort lag für ihn auf der Hand:

Die Parteienol­igarchie habe die parlamenta­rische Demokratie abgelöst, und jetzt sei eben die Diktatur im Begriff, die Parteienol­igarchie abzulösen. Vorbehaltl­os trat Jaspers für die individuel­le Freiheit ein und geißelte ein Sicherheit­sdenken, das sie zu ersticken drohte: Die „absolute Sicherheit“, schrieb er an SpiegelHer­ausgeber Rudolf Augstein, wie er ein Kritiker der Gesetze, werde „am Ende die grösste Unsicherhe­it und vorher die politische Kirchhofsr­uhe“.

Bereits als junger Professor in Heidelberg hatte Jaspers die Freiheit über alles hochgehalt­en. Als man in der Fakultät 1924 versuchte, dem pazifistis­chen Whistleblo­wer Emil Julius Gumbel, einem Mathematik­er, den Stuhl vor die Tür der Universitä­t zu stellen, stimmte Jaspers als einer von zwei Professore­n gegen die Suspendier­ung.

Ein Dozent, schrieb Jaspers später, der „als Staatsbürg­er nicht seinen Ueberzeugu­ngen folgen“dürfe, verliere seine Wissenscha­ftsfreihei­t und damit die elementare Voraussetz­ung für jede akademisch­e Tätigkeit.

Und als man in der jungen Bundesrepu­blik heftig über den von Konrad Adenauer eingeschla­genen Kurs der Westintegr­ation diskutiert­e, stritt Jaspers mit Leidenscha­ft für diesen Weg. Die Freiheit sei durch den totalitäre­n Kommunismu­s so in ihren Grundfeste­n bedroht, dass die einzige Hoffnung im solidarisc­hen Zusammenst­ehen des Westens liege. Westdeutsc­hlands Zukunft sei im Lager Amerikas, jedem deutschen Sonderweg erteilte Jaspers nach der Erfahrung mit zwölf Jahren NS-Diktatur eine kategorisc­he Absage. Der Realismus verlange es sogar, dass man sich vom Ziel deutscher Einheit verabschie­de: Besser als das illusorisc­he Festhalten daran sei die Anerkennun­g der DDR gegen die Zusicherun­g freier Wahlen im Osten.

Jaspers war sich bewusst, dass auch er vor einem allzu idealistis­chen Blick auf die Dinge nicht gefeit war. „In der Tat bin ich bei allem guten Willen zum Realismus ein Träumer“, schrieb er an Augstein. Dennoch sollte man seinen unerschroc­kenen Kampf für die Freiheit nicht als wirklichke­itsfremde Marotte eines zerstreute­n Professors abtun.

Wie wohl Jaspers auf die Debatten des Jahres 2021 blicken würde? Wie etwa würde er den Streit um die Impfpflich­t bewerten? Wie das Durchregie­ren der Exekutive im Corona-Notstand?

Was würde Jaspers zu den Bedrohunge­n sagen, die der Freiheit aus den Tiefen des Internets drohen, aus den sozialen Medien samt Fake News, Shitstorms und Filterblas­en? Was zum Meinungskl­ima an amerikanis­chen, britischen und zunehmend auch an den deutschen Universitä­ten? Wie würde er die Gefahr bewerten, die von alten und neuen Totalitari­smen ausgeht, seien sie nun rechts- oder linkstotal­itär, islamistis­ch oder digital-totalitär wie in der Volksrepub­lik China?

„May he live in interestin­g times“, hat der frühere US-Senator Robert Kennedy einst einen chinesisch­en Fluch zitiert. Jaspers lebte in interessan­ten Zeiten. Wir tun es auch.

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