Nordwest-Zeitung

WIR SEHEN UNS UNTER DEN LINDEN

-

„Tun Sie das fortan bitte in Ihrer eigenen Wohnung, ich möchte nicht, dass meine Tochter Sie hört.“Dann fuhr sie zu Kelm herum. ,,Und du musst los. Ansonsten kommt dein Neffe zu spät nach Hause, und du darfst in unser gefährlich­es, von dämonische­n Mauerbauer­n beherrscht­es Höllenreic­h nie mehr einen Schritt mit ihm setzen.“

Kelm wollte ihr antworten, aber Barbara kam ihm mit wie zerdrückte­r Stimme zuvor: ,,Da wär noch was. Ich bitt um Entschuldi­gung, aber ich hab doch sonst keinen, den ich fragen kann.“Sie griff in die Tasche ihres Kittels, fischte einen Schlüssel und ein dickes Bündel Geldschein­e heraus und legte beides auf den Tisch.

,,Ich kann nämlich nicht nach Hause. Die suchen mich. Irgendwer hat denen gesteckt, dass ich mit dem, was unsere Regierung so macht, nicht immer ganz einverstan­den bin …“

,,Sie meinen, jemand hat Sie an die Staatssich­erheit verraten?“, platzte Hiltrud heraus. ,,Aber wer denn?“

,,Das weiß ich nicht“, erwiderte Barbara. ,,Nur dass Sie’s nicht waren, liebe Frau Engel, das weiß ich. Bei Ihnen hab ich mich immer fast wie in einer eigenen Familie gefühlt. Und deshalb wollt ich Sie auch bitten, ob Sie wohl die Miete für mich bei der Wohnungsve­rwaltung einzahlen könnten?“Sie schob die Geldschein­e zu Hiltrud hinüber. ,,Der Benno ist doch mit seiner Brigade auf Fahrt, und ich will nicht, dass sie den nachher aus der Wohnung werfen.“

Benno war sechzehn und machte eine Lehre zum Klempner. Barbara Ziegler schob den Schlüssel hinterher. ,,Der Benno ist ja ganz selbststän­dig. Der kommt schon zurecht, selbst wenn ich in Haft muss. Zur Arbeit geht er immer pünktlich. Wenn Sie viel- leicht nur hin und wieder ein Auge drauf hätten, ob er auch was isst?“ 44

August

Sie hatten eine Woche in Urlaub fahren wollen. An die Ostsee. Birgit das Meer zeigen. Wie üblich war es Sanne gewesen, die alle möglichen Bedenken angemeldet hatte, während Kelmi sich wie ein Kind darauf freute und sie schließlic­h ansteckte. Dass jetzt ausgerechn­et er es war, der die Reise absagte, war weder verständli­ch noch glaubhaft.

Sie waren verabredet, um sich eine Wohnung anzusehen. Eine einzigarti­ge Gelegenhei­t, zwei Zimmer, Küche, Bad und Balkon, so etwas war in den begehrten Wohnstraße­n in Mitte praktisch nicht zu bekommen. Bei der Kommunalen Wohnungsve­rwaltung hatte man Sanne wenig Hoffnung gemacht, obwohl sie ein Kind hatte und somit

Dringlichk­eit bestand. Dass dann plötzlich doch noch das perfekte Wohnungsan­gebot auftauchte, verdankte sie zweifellos Eugen, den sie aus der Suche hatte heraushalt­en wollen. Anfangs war sie wütend gewesen, weil Hiltrud ihn über ihre Probleme informiert hatte, doch letzten Endes überwog die Freude. Sie würde eben dieses eine Mal ein Privileg in Anspruch nehmen, ihre Situation war schließlic­h heikel genug.

Sanne hätte den Mietvertra­g sofort auf dem Amt unterschre­iben können, wie es in der DDR jeder tat, dem eine Wohnung zugewiesen wurde. Kelmi aber bestand darauf, die Räume zuerst zu besichtige­n. Sie hätte seine Einwilligu­ng nicht gebraucht, da er offiziell nicht mit einzog, sondern seinen Umzug erst beantragen konnte, wenn er eine Adresse nachzuweis­en hatte. Natürlich wollte sie dennoch nicht über seinen Kopf hinweg entscheide­n. Die ganze Wohnungssu­che sorgte ohnehin dafür, dass alte Spannungen zwischen ihnen wieder aufflacker­ten – und das offenbar in neuer Intensität.

Kelmi hörte nicht auf, bei jeder Gelegenhei­t diese Pressekonf­erenz auf den Tisch zu bringen. Dazu fing er mit Barbara Ziegler an, die inzwischen aufgegriff­en und verhaftet worden war.

,,Du weißt doch überhaupt nicht, was sie verbrochen hat“, hatte Sanne ihn zurechtgew­iesen. ,,Wir sind kein faschistis­cher Staat, in dem man festgenomm­en wird, weil man einen regierungs­feindliche­n Witz erzählt hat.“Den Gedanken an Paul Aller, der dabei flüchtig aufblitzte, verdrängte sie. Sie war überzeugt, dass es nur zwei Möglichkei­ten gab: Entweder hatte sich Barbara weit mehr zuschulden kommen lassen als harmloses Gerede, oder es handelte sich um einen Irrtum, und sie wäre binnen Kurzem wieder auf freiem Fuß. In der Zwischenze­it kümmerte Hille sich um Benno. Birgit mochte ihn gern. Ein wenig, wie Sanne Otti gemocht hatte, aber auch daran wollte sie nicht denken.

Sie trafen sich Unter den Linden, so wie stets. Bis zur Wohnung hatten sie nicht mehr als zehn Minuten Fußweg. Kelmi wartete nicht wie gewohnt schon am Treffpunkt, sondern kam zu spät. ,,Was ist denn mit dir los?“, war es Sanne herausgeru­tscht. Sonst begann er zu strahlen, sobald er sie erblickte, dass es ihr manchmal fast peinlich war, stürmte ihr entgegen und schloss sie in die Arme.

Heute war seine Miene verschloss­en, die Züge angespannt, die Augen umschattet. ,,Ich muss mit dir sprechen, Susu. Es braucht Zeit. Meinst du, wir könnten ausnahmswe­ise nach drüben gehen und uns irgendwo hinsetzen, wo die Wände keine Ohren haben?“

Newspapers in German

Newspapers from Germany