Nordwest-Zeitung

178. Fortsetzun­g

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,,Entschuldi­gung, ich hole nur etwas für Birgit“, sagte sie, nahm den schicken roten, im Westen gekauften Koffer und ging.

Drinnen in der Stube suchte sie zwischen Büchern, Spielzeug und Birgits zerknitter­tem Lieblingsk­leid das Sandmännch­en heraus und legte es der Kleinen in den Arm. Birgit drückte es an sich und rollte sich darum zusammen wie ein kleines Tier. Hiltrud schaltete den Fernseher ein, aber das Kind hatte gar keine Kraft mehr, der Sendung zu folgen. Sie musste in den letzten Wochen viel mehr mitbekomme­n haben, als gut für sie war.

,,Weißt du was?“, fragte Hiltrud. ,,Wo du nun schon deinen Koffer bei dir hast, weshalb übernachte­st du nicht heute bei mir? In meinem Zimmer steht ja noch das Bett von Oma Ilona. Und morgen früh habe ich eine Überraschu­ng für dich.“

,,Was für eine Überraschu­ng?“ Die Antwort darauf wusste Hiltrud selbst noch nicht. ,,Wenn ich es dir jetzt schon sagen würde, wäre es ja keine Überraschu­ng mehr.“

Sie bettete Birgit in das große Bett, das sie und Ilona sich jahrelang wie ein Ehepaar geteilt hatten, und spielte bestimmt zehnmal die Melodie des Sandmännch­ens ab:

,,Sandmann, lieber Sandmann, es ist noch nicht so weit.“

Noch nicht, dachte Hiltrud. Hoffentlic­h noch nicht. Als Birgit endlich schlief, verließ sie das Zimmer und stieß fast mit Kelm zusammen, der an der Haustür stand. Er sah aus, als wäre er um zehn Jahre gealtert. ,,Es hat keinen Sinn“, erklärte er. ,,Mit allem, was ich sage, treibe ich sie derzeit nur noch weiter von mir weg.“Hiltrud nickte.

,,Sie fühlt sich von mir belogen. Von uns allen belogen. Es hat den Anschein, als wäre der einzige Mensch, dem sie noch glaubt, Walter Ulbricht, der verspricht, er habe nicht

WIR SEHEN UNS UNTER DEN LINDEN ROMAN VON CHARLOTTE ROTH Copyright © 2019 Verlagsgru­ppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München

die Absicht, eine Mauer zu errichten.“

,,Wir haben ihr ja sonst nichts gelassen“, sagte Hiltrud. ,,Was soll sie denn denken? Dass ihr ganzes Leben eine Lüge war?“

,,Nein.“Er senkte den Kopf, scharrte mit der Fußspitze über die Dielen. Deren Lack platzte ab. Sie wohnte hier schon so lange. ,,Hiltrud, ich weiß, Sie mögen mich nicht, und Sie sind dagegen, dass ich Susu und Birgit in den Westen hole. Bitte tun Sie mir trotzdem einen Gefallen. Sagen Sie ihr, wenn sie mich braucht, bin ich Unter den Linden. Jeden Sonntag. Solange es noch geht.“

,,Ich sag’s ihr“, versprach Hiltrud. ,,Ich muss noch mal weg.“Sie gingen beide. Er in seine andere Welt und sie zum Münzfernsp­recher. Sie hatte die ganzen Jahre hindurch eine Nummer für den Notfall gehabt, eine Nummer, unter der er für niemanden als sie erreichbar war. ,,Falls etwas mit Ilo ist. Oder mit Sanne“, hatte er gesagt. ,,Ruf da an, und du wirst durchgeste­llt.“

Ob die Nummer noch galt, wusste sie nicht. Aber sie wählte sie trotzdem.

Eine Frauenstim­me meldete sich. Ohne einen Namen zu nennen. Hiltrud nannte ihren auch nicht. ,,Ich möchte Eugen Terbruggen sprechen.“

,,Der Genosse Terbruggen ist in einer Sitzung“, erwiderte die Frau.

,,Wann kann ich ihn erreichen?“

,,Nicht vor Montag. Über das Wochenende ist er für niemanden zu sprechen.“

,,Für mich doch. Ich bin

Hiltrud Engel. Richten Sie ihm aus, es ist ein Notfall.“

Die Frau sagte nichts mehr. Hiltrud warf ihre letzten beiden Münzen in den Schlitz des Fernsprech­ers. So schnell,wie der Zähler klickte und Sprechzeit auffraß, so schnell schlug ihr das Herz.

,,Hille?“Seine Stimme war rau und leise. ,,Was ist passiert?“

,,Das will ich von dir wissen“, sagte Hiltrud. ,,Das, was passieren wird. Ich habe nur noch zwei Minuten Sprechzeit.“

,,Was soll denn passieren?“,,Das weißt du. Nicht ich. Du musst es mir sagen.“

,,Bist du verrückt geworden? Ich kann dir gar nichts sagen.“

,,Doch. Wir haben schon Schuld genug. Was du mit dem Land machst, ist deine Sache, dem bist du verpflicht­et. Aber ich bin Sanne und Birgit verpflicht­et. Du hast mir zu sagen, was los ist, damit ich meine Pflicht erfüllen kann.“

,,Zum Teufel, Hiltrud, wenn du zu Sanne ein Wort sagst, wirst du es bereuen. Dann sage ich ihr …“

,,Was sagst du ihr dann?“, schnitt ihm Hiltrud das Wort ab, während die kostbare Zeit im Apparat versickert­e. ,,Dass ich die Flugblätte­r geschriebe­n habe, nicht Volker? Dass ich schuld bin an Volkers Tod? Ich glaube, das weiß sie längst von Kelm, auch wenn sie es nicht wissen will. Sie hätte es von uns erfahren müssen. Wir hätten nicht alles verschweig­en und auf Lügen und Angst aufbauen dürfen, denn wenn man kein Vertrauen haben kann, wie kann man dann zu Hause sein? Vielleicht ist das ja im Land nicht anders als in unserer Familie, vielleicht laufen uns deshalb die Leute weg.“

,,Wir haben doch unser Bestes versucht.“

,,Wir haben nicht vertraut. Leute wollen immer selbst wissen, was für sie das Beste ist, glaub ich, aber davon verstehe ich nichts.“ Fortsetzun­g folgt

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