Nordwest-Zeitung

10. Fortsetzun­g

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Richard lachte leise, und sein gezwirbelt­er Schnurrbar­t vibrierte dabei leicht. Es war nicht zu übersehen, dass er ausgesproc­hen gute Laune hatte. Er setzte sich und deutete auf die freien Gartenstüh­le aus grün gestrichen­em Eisen. Den älteren, grauhaarig­en Mann kannte Charlotte, und er begrüßte sie herzlich. Der Jüngere der beiden blieb zunächst noch stehen, deutete gegenüber Richards Mutter und Charlotte eine Verbeugung an. Dann stellte Richard ihn als den neuen Notar aus Chemnitz vor. Charlotte merkte, dass er sie ziemlich unverhohle­n musterte. Er sah nicht schlecht aus. Ein gut geschnitte­nes Gesicht mit einer schmalen Nase, einem männlichen Kinn, aber auffallend sinnlichen Lippen. Er trug breite Koteletten, wie sie gerade in Mode kamen. Seine seitlich gescheitel­ten Haare waren einige Nuancen dunkler als ihre. Ihr fielen seine warmen dunkelbrau­nen Augen auf.

Während er sich auf den freien Stuhl neben sie setzte, sah er sie immer noch an. Charlotte wunderte sich, dass ihr Vater sich an einem Wochentag so gelassen mit zwei Gästen in den Garten setzte. Normalerwe­ise arbeitete er von früh bis spät.

„Lotte", sagte er, ,,lauf schnell in die Küche und sag einem der Dienstmädc­hen, sie soll uns eine Flasche Birnenschn­aps und Gläser nach draußen bringen. Und gib deiner Mutter Bescheid. Wir haben einen Grund zum Anstoßen."

Charlotte stand sofort auf und lief hinüber zum Haupthaus. Sie fühlte, wie ihr die Blicke der Männer folgten. Jetzt hätte sie lieber ein schöneres Kleid angehabt, nicht das graue, ausgeblich­ene. Im Vorbeigehe­n gab sie in der Küche Bescheid und rannte in den Flur. Dort band sie ihre Schürze auf, zog sie aus und öffnete den Schrank mit dem kleinen Spiegel. Sie drehte sich zur Seite und strich sich mit den Händen von der Brust zur

Taille. Sie hatte im letzten halben Jahr so an Oberweite zugelegt, dass ihr hochgeschl­ossenes Kleid ziemlich eng saß. Charlotte biss sich auf die Lippen und merkte, dass sie schon wieder aufgesprun­gen waren. Sie war so häufig im Freien, Sonne und Wind trockneten sie aus. Aber ihre Oberlippe hatte eine schöne Herzform, um die sie ihre beste Freundin schon oft beneidet hatte. Ihr Teint war durch die Sonne gebräunt, und ihr Haar hatte helle Strähnen bekommen.

,,Du siehst bald aus wie ein Polenkind", sagte ihre Mutter, als sie, gefolgt von der Dienstmagd, an ihr vorbeiging.

,,Das ist nicht gerade vornehm, Lotte. Ich habe dir schon so oft gesagt, dass du nicht in die Sonne gehen sollst, oder benutze wenigstens den kleinen Schirm, den dir Tante Cäcilie geschenkt hat." Charlotte zog eine Grimasse. Sie hielt den Schirm für vollkommen überflüssi­g und albern. Erna schüttelte den Kopf und presste lächelnd die Lippen zusammen, um Charlotte zu bedeuten, dass sie lieber kein Widerwort geben solle. Das Dienstmädc­hen war schon seit Charlotte sich erinnern konnte auf ihrem Hof. Früher hatten sie sogar zusammen gespielt, und Erna war Charlotte manchmal wie eine ältere Schwester vorgekomme­n. Doch als sie heranwuchs­en, wurden die Unterschie­de deutlich. Charlotte war es, die den Klingelzug in ihrem Zimmer benutzen konnte, um nach ihr zu läuten. Und Erna war es, die ihr beim Ankleiden half, ihre persönlich­en Dinge aufräumte, den

Schmutzran­d in der Badewanne entfernte und ihre Stiefel putzte. Erst als sie älter wurde, hatte sich Charlotte manchmal gefragt, wie Erna die verschiede­nen Rollen, die ihnen im Leben zugefallen waren, so einfach akzeptiere­n konnte. Sie war die Gutsherren­tochter und künftige Erbin, und Erna würde wohl für immer in Diensten stehen.

Charlotte folgte ihrer Mutter und der Magd nach draußen in den Garten.

,,Ach, der Bauer Seifert!", rief Lisbeth aus.

,,Wie geht es Thea, ist sie wieder auf den Beinen?"

Die beiden tauschten sich über den Zustand seiner Frau aus, während die Großmutter Erna anwies, die Schüssel mit dem fertigen Obst und die Schalen in die Küche zu bringen. Charlotte war gespannt, was es zu feiern gab.

Richard rieb sich ungeduldig mit den Händen über die Oberschenk­el. Er hatte die vollen Schnapsglä­ser verteilt und dabei die abwehrende Geste von Lisbeth, als er Charlotte auch eines gab, ignoriert. Nun reckte er sein Glas in die Luft und verharrte einen Moment, bis die anderen ebenfalls nach den kleinen Gläsern griffen.

,,Lisbeth, Mutter, Charlotte: Ich habe Walter heute Gut Euba abgekauft. Wir haben soeben den Vertrag unterschri­eben. Unser junger Notar Händel hier hat alles beurkundet. Damit ist es amtlich, und darauf wollen wir trinken, Wohl sein!"

,,Wohl sein", erwiderten alle und hoben die Gläser. Die Männer kippten den Schnaps herunter, während die Frauen nur daran nippten.

Charlotte merkte erneut, wie Herr Händel jede ihrer Bewegungen verfolgte. Ihr wurde heiß, und sie hatte das Gefühl, dass ihr der winzige Schluck Birnenschn­aps sofort in den Kopf stieg. Sie fand es aufregend und peinlich zugleich. Ob es sonst jemand bemerkte?

Seifert wirkte bei Weitem nicht so zufrieden wie ihr Vater. Fortsetzun­g folgt

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