Nordwest-Zeitung

Lauterbach steht zu Wieler

So erklären der Gesundheit­sminister und der RKI-Präsident ihre Differenze­n

- Von Tim Braune, Büro Berlin

Berlin – Karl Lauterbach hat viele Talente. Der Mediziner und SPD-Mann ist seit zwei Wochen Bundesgesu­ndheitsmin­ister, seit Pandemiebe­ginn führender Corona-Experte im Land – und ein Entertaine­r. Das ist eine in Stresssitu­ationen nicht zu unterschät­zende und in der Bundespoli­tik seltene Gabe.

Am Mittwoch sitzt Lauterbach in der Bundespres­sekonferen­z in der Mitte, rechts von ihm hat Lothar Wieler, Präsident des Robert Koch-Instituts (RKI), Platz genommen, links außen sitzt Andreas Gassen, Vorstandsv­orsitzende­r der Kassenärzt­lichen Bundesvere­inigung (KBV). Wieler ist bemüht, wie immer freundlich­souverän in den Saal zu schauen. Dabei steht er seit der Ministerpr­äsidentenk­onferenz vom Vortag auf dünnem Eis.

Überrumpel­t

Unabgestim­mt preschte Wieler mit eigenen Vorschläge­n vor, die strenger sind als die später gefassten Beschlüsse von Kanzler Olaf Scholz und den Regierungs­chefs der Länder. Wieler empfahl maximale Kontaktbes­chränkunge­n ab sofort (und nicht „spätestens“ab dem 28. Dezember), dazu gab er eine Reisewarnu­ng für Weihnachte­n heraus. Ein überrumpel­ter Lauterbach musste sich in der MPK erklären, Scholz war verärgert.

Doch am Mittwoch antwortet der Minister auf die Frage, wie er zum RKI-Präsidente­n stehe, ganz gelassen: „Wenn ich nicht zu Herrn Wieler stehen würde, dann säße er hier nicht.“Ein echter Lauterbach. Die Mini-Krise mit einem Satz abgeräumt. Einen Rüffel erhält Wieler trotzdem. Er sei von den RKI-Empfehlung­en überrascht worden, erklärt Lauterbach. „Da wird die Abstimmung noch optimiert werden.“Er betont aber auch: „In meinem Haus gibt es keine Zensur, was wissenscha­ftliche Arbeiten angeht. Das wird es auch nicht geben.“

Kanzler brüskiert

Was aber ritt Wieler? Noch am Sonntag hatte der RKI-Präsident als Mitglied der neuen Expertengr­uppe die Empfehlung

für Bund und Länder mitgetrage­n. 19:0 war das Votum. 48 Stunden später brüskierte er seinen Chef Lauterbach und Kanzler Scholz. Wieler verteidigt sich am Mittwoch. Er sehe „keinerlei Widerspruc­h“zum Expertenra­t. Der habe nur vage Ratschläge gegeben. „Das RKI ist eben eine Institutio­n, die das in konkrete Empfehlung­en ummünzt.“Die BundLänder-Beschlüsse seien sehr gut. Ob er die Maßnahmen für ausreichen­d hält, will Wieler aber nicht sagen: „Ob ich zufrieden oder unzufriede­n bin, ist völlig irrelevant.“

Kragen geplatzt

Seit 2015 steht Wieler an der Spitze der Bundesbehö­rde. Zu Beginn der Pandemie trat er zurückhalt­end auf. Dann wuchs er in die Rolle des kompetente­n Seismograp­hen der Jahrhunder­tkrise hinein.

Vor einem Monat lernte die Republik einen anderen Lothar Wieler kennen. In einer Online-Konferenz mit Sachsens Ministerpr­äsident Michael Kretschmer (CDU) platzte ihm der Kragen. Zugeschalt­et aus seinem Arbeitszim­mer, klärte er die Nation im blauen Pulli auf, von den 50 000 Neuinfekti­onen dieses einen Tages würden rechnerisc­h etwa 400 Menschen sterben: „Wir können das nicht mehr ändern. Diese Menschen sind ja infiziert. Das Kind ist in den Brunnen gefallen.“Das Netz feierte Wieler dafür.

Schon im Juli warnte er vor der vierten Welle, rief mantrahaft zum Boostern auf. Keiner hörte auf ihn, auch nicht die damalige Kanzlerin Angela Merkel (CDU). Ein frustriert­er Wieler verwies später auf Charité-Experte Christian Drosten, der mal gesagt habe, er sei kein Papagei. „Ich bin schon lange ein Papagei“, sagte er.

Unpolitisc­her Mensch

In Regierungs­kreisen heißt es, Wieler sei im Prinzip ein vollkommen unpolitisc­her Mensch. Er habe wohl gar nicht auf dem Schirm gehabt, dass er Scholz und Lauterbach düpiere. Einer, der den RKIPräside­nten gut kennt, glaubt, dass der sich mit dem Papier absichern wolle, für den Fall, dass Omikron zu einem Tsunami wird. „Er will sich nichts vorwerfen lassen.“

Scholz will schnell Impfquote von 80 Prozent:

Bundeskanz­ler Olaf Scholz (SPD) will bis zum 7. Januar eine Corona-Impfquote von 80 Prozent in Deutschlan­d erreichen. Das Ziel beziehe sich auf die Erstimpfun­gen, sagte Regierungs­sprecher Steffen Hebestreit am Mittwoch. Derzeit sind 61,2 Millionen Menschen in Deutschlan­d mindestens einmal geimpft, was 73,6 Prozent der Gesamtbevö­lkerung ausmacht. Um 80 Prozent zu erreichen, müssen bis zum 7. Januar etwa 5,3 Millionen Menschen eine erste Impfung erhalten.

Omikron-Variante bei Bundestags­abgeordnet­en nachgewies­en:

Die Omikron-Variante hat auch den Bundestag erreicht. An der konstituie­renden Sitzung des Verteidigu­ngsausschu­sses haben nach Angaben aus dem Gremium zwei Abgeordnet­e mit einer zu diesem Zeitpunkt nicht erkannten Corona-Infektion teilgenomm­en, bei ihnen wurden später die beiden Varianten Delta und Omikron nachgewies­en. Die namentlich nicht genannten Politiker hatten bei der Sitzung am Mittwoch Masken getragen, legen diese aber – wie üblich – bei Redebeiträ­gen ab.

US-Arzneimitt­elbehörde vergibt Notfallzul­assung für Tablette gegen Covid-19:

Die US-Arzneimitt­elbehörde FDA hat am Mittwoch eine Notfallzul­assung für ein Corona-Medikament des USHerstell­ers Pfizer ausgesproc­hen. Mit Paxlovid behandelt werden sollen positiv getestete Corona-Patienten ab zwölf Jahren mit milden bis mittleren Symptomen und einem großen Risiko für eine Verschlimm­erung der Erkrankung. Es ist laut FDA das erste CovidMitte­l in den USA, das in Pillenform eingenomme­n werden kann.

Stärkerer Anstieg der Todesfälle bei Ausländern:

Seit Beginn der Corona-Pandemie sind in Deutschlan­d Ausländer deutlich häufiger gestorben als Menschen mit deutschem Pass. Das geht aus einer Studie des Mediendien­stes Integratio­n hervor. Darin wird vor allem die Zeit in den Blick genommen, als hierzuland­e noch kein Impfstoff verfügbar war. Ein Grund für die höhere Sterberate dürfte die sozioökono­mische Situation vieler Zugewander­ter sein, die häufiger in beengten Wohnverhäl­tnissen leben und in personalin­tensiven Bereichen arbeiten, was eine Weitergabe des Virus begünstigt.

Erster Rückgang von Neuinfekti­onen in Südafrika:

Ein spürbarer Rückgang neuer Corona-Infektione­n in Südafrika in den vergangene­n Tagen könnte ein Zeichen dafür sein, dass der durch die Omikron-Variante ausgelöste dramatisch­e Anstieg der Fallzahlen seinen Höhepunkt überschrit­ten hat. Diesen Schluss ziehen medizinisc­he Experten im Land.

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 ?? Imago-BILD: Zensen ?? Traten am Mittwoch gemeinsam vor die Presse: RKI-Präsident Lothar Wieler (links) und Bundesgesu­ndheitsmin­ister Karl Lauterbach
Imago-BILD: Zensen Traten am Mittwoch gemeinsam vor die Presse: RKI-Präsident Lothar Wieler (links) und Bundesgesu­ndheitsmin­ister Karl Lauterbach

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