ZWEI HANDVOLL LEBEN
11. Fortsetzung
,,Ja, leicht fällt mir das nicht", fing er leise an zu reden, ohne aufzusehen. ,,Ich kann den Hof einfach nicht mehr halten. Thea ist bettlägerig und fällt bei der Arbeit vollkommen aus."
Charlottes Mutter nickte: ,,Ich weiß, Walter, sag ihr bitte, dass ich sie morgen wieder besuche."
Seiferts harte Gesichtszüge entspannten sich für einen kurzen Moment ,,Danke, Lisbeth, du hast dich immer um sie gekümmert." Sie lächelte mitfühlend, aber während er weitersprach, zeigten seine Augen wieder den trüben Ausdruck von Ausweglosigkeit.
,,Genügend Knechte für die Feldarbeit kann ich nicht bezahlen, und nach dem Unfall vom Kurt hat sowieso alles keinen Sinn mehr."
Lisbeth presste die Lippen zusammen.
,,Dein Richard ist schon ein schlauer Fuchs, der weiß, wie man zu was kommt, Lisbeth. Ich hoffe, dass Gut Euba bei ihm in guten Händen ist. So und nun lasst’s gut sein. Ich mache mich auf den Weg."
Er holte ein großes Taschentuch heraus, schnäuzte sich und hob die Hand zum Gruß. Richard war aufgestanden, um ihm zum Abschied die Hand zu schütteln, aber Seifert sah an ihm vorbei und hatte es eilig fortzukommen.
Charlotte blickte ihm nach. Konnte es wirklich sein, dass ihm Tränen die Wangen herunterliefen? Das hatte sie bei einem erwachsenen Mann noch nie gesehen. Niemals hatte sie ihren Vater, Großvater, Leutner oder einen der Knechte weinen sehen. Es berührte sie unangenehm und sie fühlte sich auf einmal unwohl. Sie hatte zwar nicht ganz genau verstanden, warum er gleich den Hof verkaufen musste, wenn seine Frau krank wurde. Und ein unbestimmtes Gefühl sagte ihr, dass ihr Vater an dem Unglück von Bauer Seifert nicht ganz unschuldig sei.
,,Was ist mit ihm? Er war doch früher immer so lustig", fragte sie.
,,Was mit ihm ist?", wiederholte Richard schroff.
Aus dem Augenwinkel bemerkte Charlotte, wie der junge Notar ihn verwundert ansah.
Richard hob die Stimme: ,,Schlecht gewirtschaftet hat er. Das will er sich nicht eingestehen und schiebt es auf seine Frau. Und ich würde auch nicht unbedingt von Krankheit sprechen, wenn ein Weibsbild morgens nicht aus dem Bett kommt. Früher hat man das Faulheit genannt."
,,Richard, das ist ein hartes Urteil. Seifert hat wirklich viel Pech gehabt: Es ist nicht nur Theas …"
Lisbeth suchte nach dem richtigen Ausdruck.
,,… Schwermütigkeit. Die verhagelte Ernte letztes Jahr, dann sind ihm fast alle seine Schweine weggestorben, sein Sohn hat bei dem Unfall das Bein verloren, so viel Unglück kann ein Mensch kaum ertragen", sagte Lisbeth.
,,Mag sein. Hagel hatten wir aber alle, und trotzdem haben wir es geschafft. Glück hat nur der Tüchtige. Basta."
Sie hörten die Rinder kommen, die von der Weide in den Stall getrieben wurden.
,,Wie steht es mit Ihnen, Herr Händel? Schon einmal zugesehen, wenn hundertzwanzig Viecher gemolken werden?", fragte Richard den Notar.
Herr Händel stand sofort auf und griff nach seinem Hut.
,,Allerdings, Herr Feltin. Wir hatten immer Milchwirtschaft zu Hause. Aber ich würde mir gerne Ihre Stallungen ansehen. Wenn es Ihnen recht wäre, könnte Ihre Tochter mich vielleicht herumführen?"
Richards Augen verengten sich. Es war ihm anzusehen, dass er den Notar auf einmal genau unter die Lupe nahm. ,,Ach so? Wie viel Vieh?" ,,Achtzig Milchkühe und zehn Ochsen." ,,Schweine?" ,,Keine." ,,Ackerland?" ,,Zweihundertzwanzig Hektar."
Richard spitzte die Lippen und dachte nach.
,,So, so. Und Sie haben sich für die Jurisprudenz entschieden? Haben wohl einen älteren Bruder, der alles erben wird?"
,,So ist es, Herr Feltin." ,,Für einen Notar sind Sie noch sehr jung. Darf ich Sie nach Ihrem werten Alter fragen?"
,,Richard!", sagte Lisbeth. ,,Was denn? Er ist doch kein Weibsbild." Herr Händel räusperte sich.
,,Sie dürfen: Dreiundzwanzig bin ich."
Richard musterte ihn einen Moment lang stumm.
,,Na, von mir aus, Charlotte. Zeig dem jungen Herrn unsere Stallungen. Aber in einer halben Stunde bist du zurück. Dann gibt es Abendbrot."
Charlotte stand auf und wusste nicht, ob sie sich freuen sollte. Sie drehte sich nach Herrn Händel um. Er war fast einen Kopf größer als sie. Und sie merkte, dass es ihr gefiel, als er neben ihr auf das Herrenhaus zu ging.
,,Ein sehr stattliches Anwesen. Wann wurde es gebaut?", fragte er. Charlotte sah das Gebäude in der Abendsonne liegen und beurteilte es auf einmal aus seiner Sicht. Die Fassade war strahlend weiß. Die großen Sprossenfenster mit den Sandsteineinfassungen leuchteten im goldenen Licht. Weit und breit war es eines der größten und modernsten Herrenhäuser.
,,Ich glaube, 1908 wurde es fertiggestellt", antwortete sie leise.
Fortsetzung folgt