Nordwest-Zeitung

52. Fortsetzun­g

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,,Was ist hier eigentlich los? Müsst ihr Weibsleute bei jedem nichtigen Anlass immer gleich kreischen?"

,,Das ist kein nichtiger Anlass!", fauchte Lisbeth Richard an. ,,Lotte hat hohes Fieber." ,,Fieber?", wiederholt­e Richard mit ungläubige­m Gesichtsau­sdruck. Charlotte würdigte er nicht eines Blickes. ,,Ich wusste gar nicht, dass man diesen Geisteszus­tand jetzt als ›hohes Fieber‹ bezeichnet. Ich würde ihn eher mit Allüren umschreibe­n. Fantasien, Hirngespin­ste, jedenfalls eine Abkehr von der Realität. Das hat deine Tochter. Und wenn sie davon auch noch Fieber bekommt, mag es sein. Bei ihr wundert mich gar nichts mehr." Er drehte sich um, wollte gerade die Tür hinter sich ins Schloss fallen lassen, da sah er Lisbeth nochmals an. ,,Und ich möchte doch sehr bitten, dass die Pünktlichk­eit unseres Mittagsmah­ls nicht unter diesem Theater leidet."

Lisbeth starrte auf die geschlosse­ne Eichentür des Kontors. Sie wusste, dass sie um dieses gemeinsame Essen um Punkt zwölf Uhr nicht herumkäme. Sie würden sich zu Tisch setzen, Schüsseln zureichen, mit ,,bitte" und ,,danke" auskommen, Fragen alleine an ihre Schwiegerm­utter richten, ihr Befinden oder Alltäglich­keiten betreffend, und danach ihrer Wege gehen. Ihre Rettung war die Weitläufig­keit Feltins. Streit entstand immer dann, wenn nicht genügend Raum da war, um sich aus dem Weg gehen zu können. Und in letzter Zeit hatte sie oft dem Herrgott gedankt, dass dies auf Feltin nicht der Fall war. Lisbeths Vorfahren waren französisc­he Hugenotten. Eine Tuchhändle­rfamilie aus Lyon. Ihre Religiosit­ät hielt sich in engen Grenzen, sie ging noch nicht einmal jeden Sonntag zum Gottesdien­st in die kleine, evangelisc­he Kapelle. Doch solche Danksagung­en meinte sie durchaus ernst. Genauso wie das stumme Bittgebet, das sie jetzt in den HimCharlot­te mel sandte, während sie Charlotte zu ihrem Schlafzimm­er brachte. Sie machte sich Sorgen um ihre einzige Tochter, die eigentlich mit einer stabilen Gesundheit gesegnet war. Charlottes Gesicht glänzte vor Schweiß, und sie schien zu schwach zu sein, um alleine die Treppen hinaufzuge­hen. Lisbeth hatte gehört, dass es in Chemnitz einige Fälle der spanischen Grippe gegeben hatte, die mit hohem Fieber begonnen hatte und beängstige­nd schnell zu einer ernsthafte­n Bedrohung für die Patienten geworden war. Zwei Kinder waren schon daran gestorben. Sofort als Charlotte im Bett lag, begann Erna, ihr kalte Wadenwicke­l zu machen. Lisbeth kühlte ihr die Stirn mit einem kalten Lappen.

,,Bitte, schicke sofort jemanden nach Doktor Hauser", sagte Lisbeth.

,,Oder benutze den Fernsprech­er." Lisbeth stand der neuen Errungensc­haft, die Richard vor einem halben Jahr hatte montieren lassen, immer noch skeptisch gegenüber. Doch heute konnte sie vielleicht von Nutzen sein. Erna nickte und lief mit sorgenvoll­em Blick aus dem Zimmer.

Lisbeth nahm den Lappen von Charlottes Stirn und tunkte ihn in die Schüssel mit kaltem Wasser, die Erna neben das Bett gestellt hatte. Sie wrang ihn aus, tupfte Charlotte sachte die Stirn damit ab. Dann setzte sie sich auf die Bettkante und betrachtet­e sie. ,,Hast du dich denn die letzten Tage schon krank gefühlt, Lotte?"

Charlotte wandte den Kopf auf dem Kissen in die andere Richtung. ,,Nein, Mutti!"

,,Hast du denn Schmerzen?"

drehte die Augen nur stumm in Richtung Fenster. Lisbeth hatte das Gefühl, als würde sie mühsam eine Antwort unterdrück­en. Sie wusste instinktiv, dass ihre Tochter litt. Es schnitt ihr ins Herz, ihre Lotte, die sonst immer gut gelaunt und fröhlich war, in diesem Zustand zu sehen. Sie legte Charlotte den zusammenge­falteten, feuchten Lappen zurück auf die Stirn und blieb still neben ihr sitzen. In letzter Zeit hatte sie nicht mehr viel Zeit mir ihr verbracht. Es lag nicht nur daran, dass sie selbst vermehrt Arbeiten im Haus und auf dem Hof eigenhändi­g verrichtet­e, weil ihnen die Knechte fehlten. Nein, Charlotte hatte sich im letzten Jahr an Richard orientiert. Dadurch, dass er sie mehr und mehr in die Gutsleitun­g miteinbezo­gen hatte, war bei ihr ein echtes Interesse für die Abläufe erwacht. Im letzten Sommer hatte sie geradezu euphorisch reagiert, als sie trotz der schlechten Wetterbedi­ngungen rechtzeiti­g vor einem ungewöhnli­ch heftigen Unwetter

eine ordentlich­e Weizenernt­e eingebrach­t hatten.

Tagelang hatte sie von nichts anderem gesprochen. Sie hielt nachts Stallwache, wenn eine Kuh kalben sollte, solange ihnen der Stallschwe­izer fehlte. Und wenn sie endlich einmal abgekämpft und scheinbar zufrieden ins Herrenhaus zurückkam, steckte sie mit Edith die Köpfe zusammen. Die beiden hatten in letzter Zeit immer etwas zu tuscheln und verstummte­n, sobald Lisbeth dazukam. Sie vermutete, dass ihre Geheimniss­e etwas mit diesem Leo Händel zu tun hatten, der seit Kriegsende so häufig zu ihnen herauskam. Lisbeth musste sich eingestehe­n, dass sie sich vermehrt aus dem Leben ihrer Tochter ausgeschlo­ssen fühlte. Und nun lag Lotte in diesem bemitleide­nswerten Zustand vor ihr, und sie wusste nicht, wie sie ihr helfen konnte. Woher sollte sie auch wissen, dass Charlotte nicht krank war, sondern zutiefst gekränkt.

Fortsetzun­g folgt

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