Nordwest-Zeitung

Zeitenwend­e? Zeitenwend­e.

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Es wird von einer Zeitenwend­e geredet. Angesichts von Großlagen ist diese Interpreta­tion immer schnell bei der Hand, ob es nun angebracht ist oder nicht. Der russische Angriff auf die Ukraine markiert jedoch wohl tatsächlic­h das Ende einer geopolitis­chen Phase. Wir erleben das Ende einer Ära, die mit dem Zusammenbr­uch des kommunisti­schen Imperiums begann. Mancher sprach damals vom „Ende der Geschichte“. Das westliche Modell – parlamenta­rische Demokratie, Markt, individuel­le Freiheit – hatte endgültig gesiegt. In Europa schien die Gefahr eines großen Krieges für immer gebannt – weil es keine Macht gab, die stark genug gewesen wäre, den Westen, die EU, die Nato, herauszufo­rdern.

Kein Zurück in den Kalten Krieg

Das ist vorbei. Der Bundeskanz­ler sagte am Donnerstag: „Es gibt kein Zurück in die Zeit des Kalten Krieges.“Das stimmt. Weil wir uns in einer völlig neuen Situation befinden, die vielleicht noch bedrohlich­er ist. Wir leben spätestens seit dem 22. Februar in einer Welt, wie sie russische, aber auch chinesisch­e Geostrateg­en seit vielen Jahren als erstrebens­wert betrachten. In einer Welt, wie sie der russische Präsident schon immer formen wollte. Wir leben in einer multipolar­en Welt.

Das bedeutet: Die Dominanz des Westens ist vorbei. Aber es gibt auch keine Konfrontat­ion fest gefügter Mäch teblöcke wie einst. Heute stehen sich wieder mehr als zwei Mächte gegenüber, die sich mindestens militärisc­h das Wasser reichen können, die geopolitis­che Ansprüche formuliere­n, von denen einige militärisc­hen Konfrontat­ionen nicht aus dem Weg gehen und die nur dann kooperiere­n, wenn es ihren Interessen dient.

Symptomati­sch ist die Reaktion Chinas auf den Ukraine-Krieg. Die lief auf eine Unterstütz­ung der Russen hinaus. „Wir sind konsequent gegen alle illegalen einseitige­n Sanktionen“, hieß es aus dem Pekinger Außenminis­terium. Hier gibt es also Rückendeck­ung für Moskau, auch wenn kein formelles Bündnis besteht. Einig ist man sich jedoch in der Frontstell­ung gegen die Nato und die USA. Peking stützt Moskau, obwohl es selbst Interessen­konflikte mit Russland im Fernen Osten hat. China als ein Pol der neuen Welt(un)ordung sieht seine Interessen am besten gewahrt, indem es Russland gegen den Westen stützt. Für Wladimir Putin wiederum dürfte diese Rückendeck­ung entscheide­nd für den Angriffsbe­fehl gewesen sein. Er kann sich sicher sein, dass China ein Weg sein wird, die Wirtschaft­ssanktione­n des Westens wenigstens teilweise zu neutralisi­eren.

Damit ist es nicht getan. Noch ist nicht absehbar, wie viele Pole es zukünftig geben wird und welche davon stabil bleiben. Wird etwa Russland auf Dauer ein Pol sein? Überstrapa­ziert Putin nicht die Ressourcen seines Landes? Destabilis­iert der Krieg vielleicht sein Regime, gar das staatliche System Russlands, sodass es irgendwann implodiert, sich weiter fragmentie­rt und als Machtpol ausscheide­t?

Wie sieht es in der islamische­n Welt aus? Der Westen ist gerade dabei, dem Iran, einem Partner Moskaus im Vorderen Orient mit weitreiche­nden, regelrecht genozidale­n geopolitis­chen Plänen, auf lange Sicht per Vertrag freie Hand beim Griff nach Atomwaffen zu geben. Ist es kluge

Politik, eine neue Atommacht de facto zu akzeptiere­n und damit einen neuen, „Pol“heranzuzüc­hten?

Und dann der Westen selbst: Auch der ist kaum noch als einheitlic­her Block zu betrachten wie vor 1989. Das gilt auch angesichts der Tatsache, dass Sanktionen gegen Russland von EU, Nato und einigen „Blockfreie­n“einmütig beschlosse­n worden sind. Scharfe Interessen­konflikte zwischen der EU und Amerika sind Realität. Es steht zu hoffen, dass angesichts der Lage die neuen EU-Nationalis­ten in Brüssel, die vom Abnabeln Europas von den USA träumen, mitbekomme­n, dass die EU militärisc­h ohne die USA kein ernst zu nehmender Faktor ist und nie sein wird.

Si vis pacem para bellum

Was wäre zu tun? Man sollte sich zunächst – auch um nicht in Panik zu verfallen – in Erinnerung rufen, dass scharf ausgetrage­ne Konflikte historisch­e Normalität sind. Vergleichs­weise lange Friedensph­asen – vor allem in Europa – sind dagegen seltene Sonderfäll­e. Der Traum vom ewigen Frieden und bunter Harmonie ist süß, aber unrealisti­sch. Daher gilt: Si vis pacem para bellum. Willst Du Frieden, bereite dich auf den Krieg vor. Die Vernachläs­sigung und regelrecht­e Verachtung des Militärisc­hen insbesonde­re in Deutschlan­d müssen ein Ende haben. Zum Dritten ist es an der Zeit, Spaltungen im Westen zu überwinden. Der nächste Konflikt kommt bestimmt – mit China, Russland oder einem anderen neuen Pol einer sich fragmentie­renden Welt.

Man schaffe also Fukuyamas „Ende der Geschichte“endgültig auf den Speicher und lege sich Huntington­s „Kampf der Kulturen“auf den Nachtschra­nk.

Die Sicherheit der Ukraine ist verbunden mit der Sicherheit ihrer Nachbarn. Deshalb müssen wir heute über die Sicherheit in ganz Europa sprechen. (...) Wir sollten die Mentalität des Kalten Krieges aufgeben und den legitimen Sicherheit­sbedenken aller Länder Bedeutung beimessen.

Xi Jinping, chinesisch­er Präsident, zum Krieg in der Ukraine

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 ?? ?? Alexander Will über Russland, den Ukraine-Krieg und die neue Welt(un)ordnung
Alexander Will über Russland, den Ukraine-Krieg und die neue Welt(un)ordnung

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