Warum ich mich für Unterhaus-Spitzenspiel erwärmen kann
So wie ich bis mindestens ans Ende meiner Tage mit der Schalker Meisterschaft der Herzen 2001 als „Reporter der Schmerzen“in Erinnerung bei den Fans bleiben werde, geht es wohl auch der Papierkugel im Mai 2009 im Hamburger Volksparkstadion. Dort wie hier war es eine Verkettung tragischer Momente. Gleich viermal gab es das Nordderby in 19 Tagen. DFB-Pokal, UefaCup-Halbfinale und Rückrundenspiel in der Bundesligasaison 2008/2009. Die Papierkugel, aufs Spielfeld von einem Fan geworfen, sorgte damals, als der Hamburger Gravgaard klären wollte, für einen versprungenen Ball und führte zur Ecke. Die brachte für die Bremer durch ein Kopfballtor von Frank Baumann zum 3:1 die Entscheidung. Werder gewann letztlich mit 3:2 und zog ins Uefa-Cup-Finale ein.
Man sollte aber bei der Beurteilung sowohl des Schalkeals auch des HSV-Traumas be
dass weder die Papierkugel noch ich für die Unzulänglichkeiten der Spieler und Mannschaften was konnten. Es gab in diesen Derbywochen aber noch ein Drama. Ins DFB-Pokalfinale zog ebenfalls Werder ein. Tim Wiese
hatte schon in den Wochen zuvor heftig über die Hamburger gelästert. Ausgerechnet er parierte vor der Fankurve des HSV im Elfmeterschießen dreimal glänzend. Völlig außer Rand und Band drehte er anschließend eine Ehrenrunde in „Feindesland“. Die HSV-Fans werden ihm das auf ewig nicht verzeihen.
Ich war bei allen vier Spielen als Fieldreporter dabei und wohl ebenso ob der Dramatik zeitweise fassungslos, überrascht und auch begeistert. Mit etwas Wehmut blicke ich als Norddeutscher auf solche Derbys zurück. Spitzenfußball – national und international waren wir eine Hausnummer. Man braucht nur mal einen Blick in beide Kader der Saisonendphase 2009 werfen. Da wird mir ganz anders. Was für Namen, was für Spiele. Diego, Claudio Pizarro, Per Mertesacker, Naldo, Mesut Özil auf Bremer, Mladen Petric, Jérome Boateng, Nigel de Jong, Ivica Olic, Piotr Trochowski auf Hamburger Seite. Ich schnalze heute noch mit der Zunge. Und auch die Interviews hatten es oft in sich. Selten was Geschöntes oder medienmäßig Aufbereitetes.
Und heute? Ok, beide Vereirücksichtigen, ne in der 2. Liga, aber dafür an der Spitze. Der Zweite trifft auf den Tabellenführer. Coronabedingt nicht vor ausverkauftem Haus, wie man es sonst kennt, und auch sonst nur noch bedingt ein Hochrisikospiel. Viele Fans sind einfach müde, haben die Emotionen und die Aufgeregtheiten aufgrund der allgemeinen Entwicklung des Fußballs und ihrer jeweiligen Clubs etwas verloren. Und dennoch freue ich mich auf die Auseinandersetzung und hoffe auf ein spannendes Match. Das Flair der damaligen heißen Derbys gibt es nicht mehr, auch im Vorfeld merkt man in den Städten wenig. Und dass es ein Drama wird, glaube ich auch nicht. Ohne die Heißsporne von damals, ohne Tim Wiese, Mladen Petric und Co. wird es kein Feuerwerk der Leidenschaften geben, allenfalls ein erwärmendes Topspiel im Unterhaus. Aber das wäre in diesen Zeiten doch auch schon was.