Nordwest-Zeitung

ZWEI HANDVOLL LEBEN

- ROMAN VON KATHARINA FUCHS Copyright ©2019Droeme­rKnaurGmbH &Co.KG,München

65. Fortsetzun­g

,,Wenn du die Kohlen hochholst, kann ich das Wasser anheizen, und dann wäschst du erst einmal deine Haare. Du wirst sehen. Morgen siehst du aus wie ein neuer Mensch."

CHARLOTTE Charlotte litt unter dem eisigen Schweigen. Sie litt mehr, als sie hätte zugeben wollen. So ging es nun bei jeder gemeinsame­n Mahlzeit. Man saß zusammen beim Mittagesse­n, und außer dem leisen Klappern der Löffel auf dem Boden der Suppentell­er herrschte nur eine beklemmend­e Stille. Der trübe, kalte Januar und die erste Hälfte des Februars hatten sich unendlich lange hingezogen. Charlottes niedergesc­hlagene Stimmung war dadurch noch verstärkt worden. Und natürlich förderte die Atmosphäre zwischen ihr und ihrem Vater ihre Schwermut. Richard trug selten jemandem etwas nach. Normalerwe­ise war sein Jähzorn so schnell verraucht, wie er aufflacker­te. Doch diesmal war es anders: Nicht genug damit, dass er ihr die Entscheidu­ng gegen Leo nicht verzieh. Nach seiner Überzeugun­g hatte Charlotte Leos Antrag aus einer Laune heraus abgelehnt, obwohl er eigentlich genau der richtige Ehemann für sie, vor allem aber der passende Schwiegers­ohn für ihn gewesen wäre. Seit dem Tag, an dem Charlotte ihm in seinem Arbeitskon­tor scheinbar hochmütig erklärt hatte, sie habe an jedem Finger zehn andere, hatten sie kein einziges Wort mehr miteinande­r gewechselt. Als Richard jetzt anfing zu sprechen, sahen ihn Lisbeth, Charlotte und Wilhelmine verwundert an. Demonstrat­iv richtete er das Wort ausschließ­lich an seine Mutter: ,,Was mögen die Siegermäch­te in Paris wohl in diesem Augenblick aushecken?"

,,Wie kommst du nun gerade darauf, Richard?", fragte Wilhelmine und tupfte sich den Mund mit der Damastserv­iette ab.

,,Nun, Mutter, dieser Tage entscheide­n die Alliierten über Wohl und Wehe Deutschlan­ds. Man hat es sich kaum je so schlimm vorgestell­t. Die Realität übertrifft eben oft unsere Fantasie, und zwar in diesem Fall auf das Ärgste."

,,Wir können es ja doch nicht ändern", sagte Lisbeth und öffnete den Deckel der Suppenterr­ine. ,,Wer möchte noch einen Nachschlag? Richard?"

Ohne zu antworten, hielt er ihr seinen Teller entgegen.

,,Was dort stattfinde­t, sind keine Friedensve­rhandlunge­n", fuhr er fort, nachdem er seinen vollen Teller abgestellt hatte. ,,Man sieht es ja allein daran, dass Deutschlan­d gar nicht geladen wird. Die Bedingunge­n werden diktiert, und jedem wirtschaft­lich und politisch halbwegs vernünftig denkenden Deutschen muss klar werden, dass sich unser

Land in den nächsten Jahrzehnte­n von den jährlichen Reparation­szahlungen und Auflagen nicht wird erholen können. Deutschlan­d wird in die Knie, ja, in den Dreck gezwungen."

Er ließ die Faust auf den Tisch niedersaus­en, und das Geschirr klirrte.

,,Ja, nun, Richard. Ist das so verwunderl­ich? Glaubst du denn, unser Kaiser Wilhelm und seine Generäle hätten sich im Fall eines Sieges gnädiger verhalten?", fragte Wilhelmine.

Charlotte und Lisbeth ließen ihre Löffel sinken. Normalerwe­ise traute sich niemand, noch einen Mucks zu machen, wenn Richard kurz vor einem Wutausbruc­h stand, selbst seine Mutter nicht. Er antwortete nicht gleich, sondern kippte seinen Teller ein wenig, um den Rest der Suppe auszulöffe­ln. Charlotte sah ihn von der Seite an. Sein Schnurrbar­t vibrierte. Brodelte er innerlich?

,,Du hast recht, Mutter", sagte er auf einmal, und Lisbeth atmete hörbar auf. ,,Mit Ruhm bekleckert haben wir uns wahrlich nicht. Da sollten wir das Jammern wohl besser sein lassen. Was gibt es als Hauptgeric­ht? Diese Brühe kann ja nicht alles gewesen sein! Ich habe noch einen langen Tag vor mir."

,,Gewiss, Richard. Frau Leutner hat Kutteln gekocht", sagte Lisbeth. Sofort hellte sich Richards Gesicht auf. ,,Ah, hab ich’s doch gerochen", sagte er, und Charlotte musste grinsen, denn sie durchschau­te die Absicht ihrer Mutter, ihn bei Laune zu halten. Kutteln waren eine von Richards Leibspeise­n. Sie selbst hasste diese Innereien, die zehn Stunden lang in Salzwasser gekocht werden mussten, weshalb der Geruch schon gestern durch den Küchentrak­t gezogen war. Normalerwe­ise erwartete niemand in der Familie von ihr, dass sie auch nur einen Bissen davon zu sich nahm. Als Erna erschien, um die Teller abzuräumen, erhob sich Charlotte und murmelte leise: ,,Entschuldi­gt mich bitte." Sie wollte zur Tür gehen, doch ein dumpfer Knall ließ sie zusammenzu­cken. Zum zweiten Mal während des Mittagesse­ns schlug Richard mit der Faust auf den Tisch.

,,Wer hat eigentlich deiner Tochter erlaubt, während der Mahlzeit vom Tisch aufzustehe­n?", sagte er mit bebender Stimme zu seiner Frau.

,,Lass sie doch, Richard. Du weißt doch …"

Lisbeth sprach nicht weiter, sondern sah ihn beschwören­d an. Charlotte war sofort stehen geblieben und wagte nicht, sich zu rühren. Ebenso Erna, mit dem vollen Tablett in den Händen. Wilhelmine betrachtet­e ihren Sohn und konnte in seiner gesamten Haltung lesen, wie sehr er in diesem Augenblick mit sich selbst rang.

Fortsetzun­g folgt

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