ZWEI HANDVOLL LEBEN
65. Fortsetzung
,,Wenn du die Kohlen hochholst, kann ich das Wasser anheizen, und dann wäschst du erst einmal deine Haare. Du wirst sehen. Morgen siehst du aus wie ein neuer Mensch."
CHARLOTTE Charlotte litt unter dem eisigen Schweigen. Sie litt mehr, als sie hätte zugeben wollen. So ging es nun bei jeder gemeinsamen Mahlzeit. Man saß zusammen beim Mittagessen, und außer dem leisen Klappern der Löffel auf dem Boden der Suppenteller herrschte nur eine beklemmende Stille. Der trübe, kalte Januar und die erste Hälfte des Februars hatten sich unendlich lange hingezogen. Charlottes niedergeschlagene Stimmung war dadurch noch verstärkt worden. Und natürlich förderte die Atmosphäre zwischen ihr und ihrem Vater ihre Schwermut. Richard trug selten jemandem etwas nach. Normalerweise war sein Jähzorn so schnell verraucht, wie er aufflackerte. Doch diesmal war es anders: Nicht genug damit, dass er ihr die Entscheidung gegen Leo nicht verzieh. Nach seiner Überzeugung hatte Charlotte Leos Antrag aus einer Laune heraus abgelehnt, obwohl er eigentlich genau der richtige Ehemann für sie, vor allem aber der passende Schwiegersohn für ihn gewesen wäre. Seit dem Tag, an dem Charlotte ihm in seinem Arbeitskontor scheinbar hochmütig erklärt hatte, sie habe an jedem Finger zehn andere, hatten sie kein einziges Wort mehr miteinander gewechselt. Als Richard jetzt anfing zu sprechen, sahen ihn Lisbeth, Charlotte und Wilhelmine verwundert an. Demonstrativ richtete er das Wort ausschließlich an seine Mutter: ,,Was mögen die Siegermächte in Paris wohl in diesem Augenblick aushecken?"
,,Wie kommst du nun gerade darauf, Richard?", fragte Wilhelmine und tupfte sich den Mund mit der Damastserviette ab.
,,Nun, Mutter, dieser Tage entscheiden die Alliierten über Wohl und Wehe Deutschlands. Man hat es sich kaum je so schlimm vorgestellt. Die Realität übertrifft eben oft unsere Fantasie, und zwar in diesem Fall auf das Ärgste."
,,Wir können es ja doch nicht ändern", sagte Lisbeth und öffnete den Deckel der Suppenterrine. ,,Wer möchte noch einen Nachschlag? Richard?"
Ohne zu antworten, hielt er ihr seinen Teller entgegen.
,,Was dort stattfindet, sind keine Friedensverhandlungen", fuhr er fort, nachdem er seinen vollen Teller abgestellt hatte. ,,Man sieht es ja allein daran, dass Deutschland gar nicht geladen wird. Die Bedingungen werden diktiert, und jedem wirtschaftlich und politisch halbwegs vernünftig denkenden Deutschen muss klar werden, dass sich unser
Land in den nächsten Jahrzehnten von den jährlichen Reparationszahlungen und Auflagen nicht wird erholen können. Deutschland wird in die Knie, ja, in den Dreck gezwungen."
Er ließ die Faust auf den Tisch niedersausen, und das Geschirr klirrte.
,,Ja, nun, Richard. Ist das so verwunderlich? Glaubst du denn, unser Kaiser Wilhelm und seine Generäle hätten sich im Fall eines Sieges gnädiger verhalten?", fragte Wilhelmine.
Charlotte und Lisbeth ließen ihre Löffel sinken. Normalerweise traute sich niemand, noch einen Mucks zu machen, wenn Richard kurz vor einem Wutausbruch stand, selbst seine Mutter nicht. Er antwortete nicht gleich, sondern kippte seinen Teller ein wenig, um den Rest der Suppe auszulöffeln. Charlotte sah ihn von der Seite an. Sein Schnurrbart vibrierte. Brodelte er innerlich?
,,Du hast recht, Mutter", sagte er auf einmal, und Lisbeth atmete hörbar auf. ,,Mit Ruhm bekleckert haben wir uns wahrlich nicht. Da sollten wir das Jammern wohl besser sein lassen. Was gibt es als Hauptgericht? Diese Brühe kann ja nicht alles gewesen sein! Ich habe noch einen langen Tag vor mir."
,,Gewiss, Richard. Frau Leutner hat Kutteln gekocht", sagte Lisbeth. Sofort hellte sich Richards Gesicht auf. ,,Ah, hab ich’s doch gerochen", sagte er, und Charlotte musste grinsen, denn sie durchschaute die Absicht ihrer Mutter, ihn bei Laune zu halten. Kutteln waren eine von Richards Leibspeisen. Sie selbst hasste diese Innereien, die zehn Stunden lang in Salzwasser gekocht werden mussten, weshalb der Geruch schon gestern durch den Küchentrakt gezogen war. Normalerweise erwartete niemand in der Familie von ihr, dass sie auch nur einen Bissen davon zu sich nahm. Als Erna erschien, um die Teller abzuräumen, erhob sich Charlotte und murmelte leise: ,,Entschuldigt mich bitte." Sie wollte zur Tür gehen, doch ein dumpfer Knall ließ sie zusammenzucken. Zum zweiten Mal während des Mittagessens schlug Richard mit der Faust auf den Tisch.
,,Wer hat eigentlich deiner Tochter erlaubt, während der Mahlzeit vom Tisch aufzustehen?", sagte er mit bebender Stimme zu seiner Frau.
,,Lass sie doch, Richard. Du weißt doch …"
Lisbeth sprach nicht weiter, sondern sah ihn beschwörend an. Charlotte war sofort stehen geblieben und wagte nicht, sich zu rühren. Ebenso Erna, mit dem vollen Tablett in den Händen. Wilhelmine betrachtete ihren Sohn und konnte in seiner gesamten Haltung lesen, wie sehr er in diesem Augenblick mit sich selbst rang.
Fortsetzung folgt