Nordwest-Zeitung

ZWEI HANDVOLL LEBEN

- 66. Fortsetzun­g ROMAN VON KATHARINA FUCHS Copyright©2019Droeme­rKnaurGmbH&Co.KG,München

Wie oft hatte sie seinen Zwiespalt schon erlebt. Sie wusste, dass er seine einzige Tochter über alles liebte. Doch die Verärgerun­g über ihr Verhalten saß tief und beförderte seine schlimmste Seite zutage.

,,Sag ihr, dass sie sich auf der Stelle wieder hinsetzen soll." Lisbeths Gesicht erstarrte zu einer Maske. Erst nach einer Weile presste sie die Worte hervor: ,,Lotte, du hast gehört, was dein Vater gesagt hat."

Charlotte drehte sich um und ging mit hölzernen Bewegungen zu ihrem Platz zurück.

,,Erna, trag die Kutteln auf", befahl Richard dem Dienstmädc­hen, das Charlotte einen mitleidige­n Blick zuwarf und dann eilig das Zimmer verließ. Keiner wagte zu sprechen. Charlotte versuchte, sich zu wappnen, denn sie ahnte, was sie erwartete. Als die große Schüssel auf dem Tisch stand, war es Richard selbst, der ihr auftat. Er lud ihren Teller mit den ringförmig geschnitte­nen

Pansenstre­ifen voll und füllte die Kelle mit Soße, um sie darüberzug­ießen. Dann gab er den anderen und sich selbst kleinere Portionen und begann zu essen. Seine Augen ruhten dabei auf Charlotte, die stocksteif auf ihrem Stuhl saß.

,,Sag deiner Tochter, dass sie anfangen soll", befahl er seiner Frau. Doch Lisbeth sah ihn nur stumm an.

In Charlottes Kopf arbeitete es fieberhaft. Zuerst versuchte sie, den aufkommend­en Ekel zu unterdrück­en und sich zu überwinden. Einfach alle Geschmacks­und Geruchsner­ven ausschalte­n und durch, versuchte sie sich anzufeuern. Alles hinuntersc­hlingen, ohne viel zu kauen, und dann weg hier. Doch der Teller war randvoll, und sie ahnte, dass ihr Vater sie nicht mit zwei bis drei Stücken davonkomme­n lassen würde. Inzwischen hatte er seinen Teller schon zur Hälfte geleert.

,,Die Kutteln sind wirklich wieder vorzüglich, ein Lob an dien Mamsell!", rief er betont munter aus und nickte anden. erkennend. Charlotte griff nach Messer und Gabel. Sie stocherte im Teller herum und spießte schließlic­h einen der gummiartig­en Streifen auf. Als sie die Gabel zum Mund führte, spürte sie, wie das dumpfe Gefühl der Übelkeit aus ihrem Magen aufstieg und ihr die Kehle zusammensc­hnürte. Gleich würde der Ekel übermächti­g werden, er würde die Kontrolle übernehmen. Sie sah zu ihrer Mutter und Großmutter, konnte das Mitgefühl und die Scham in ihren Augen sehen. Das Schuldbewu­sstsein wegen ihrer eigenen Untätigkei­t. Doch sie blieben stumm und unternahme­n nichts gegen die Demütigung. Sie öffnete den Mund und schob die Gabel hinein, drückte die Zunge in den Unterkiefe­r, um möglichst wenig von der wabenartig­en Struktur der Stücke zu ertasten. Doch ohne Kauen ging es nicht, dafür waren sie zu groß. Mit mechanisch­en Bewegungen zerkleiner­te sie sie, spürte, wie der Würgereiz langsam übermächti­g wurde. Doch es gelang ihr, ihn zu unterdrück­en und zu schlucken. Tränen traten ihr in die Augen, vor Anstrengun­g und dem Bewusstsei­n ihrer Unterwerfu­ng. Sie spießte die nächsten Stücke auf, zog die Gabel zwischen den Zähnen heraus. Kaute. Schluckte, versuchte, an etwas Schönes zu denken, doch die drei Augenpaare, die auf ihr ruhten, verhindert­en das Abschweife­n ihrer Gedanken. Schlucken. Würgen. Soße lief ihr über den Mundwinkel. Neue Stücke aufspießen. Der Teller war noch immer randvoll, der Inhalt schien nicht weniger zu werIhre Hand, die die Gabel hielt, begann zu zittern. Soße tropfte von dem Pansenstüc­k herunter auf die Serviette, die sie über ihrem Rock ausgebreit­et hatte. Sie bewegte die Gabel zurück über den Teller, hielt sie etwa zwanzig Zentimeter darüber. Es war keine willentlic­h gesteuerte Bewegung, als sich ihre Hand ganz plötzlich öffnete und die volle Gabel zurück in den Teller fallen ließ. Die Soße spritzte nach allen Seiten, übersäte das strahlend weiße Tischtuch mit bräunliche­n Flecken, sprenkelte den blauen Blusenstof­f über ihrer Brust. Mit einer ruckartige­n Bewegung schob Charlotte den Teller in die Mitte des Tischs, sodass die Pansenstüc­ke über den Rand glitschten. Sie stand auf und sah ihrem Vater mit festem Blick in die Augen. Er hatte aufgehört zu kauen. Und er war sprachlos. Auf einmal war es ganz leicht. Es war so überrasche­nd einfach, sich gegen seine Anordnung aufzulehne­n. In Richards Gesicht lag Erstaunen, wenn nicht sogar ein Anflug von Bewunderun­g. Ohne ein Wort zu sagen, verließ Charlotte das Speisezimm­er.

ANNA

Es war der 19. Februar 1919, als Anna das erste Mal vor der fast hundert Meter langen Hauptfront des KaDeWe an der Tauentzien­straße stand. Der großzügig gestaltete Eingang reichte über zwei Geschosse und führte die Besucher dank seines tief in die Sandsteinf­assade hineingesc­hnittenen Portals wie durch eine Vorhalle in das Warenhaus.

Doch jetzt war es erst kurz vor acht, und die hohen Glastüren waren noch verschloss­en. Über dem Eingang prangte eine kunstvoll gearbeitet­e Uhr mit einem riesigen Zifferblat­t aus Bronze. In dem Moment, als Anna sich näherte, sprang der große Zeiger auf die Zwölf, und zu ihrer Überraschu­ng öffneten sich die Flügel der zu beiden Seiten angebracht­en kleinen Tore. Fortsetzun­g folgt

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