,Beschämende deutsche Reaktion‘
Politikwissenschaftler Nitschke über EU-Sanktionen und Russlands Kollaps
Freedom Day-Rummel
Herr Nitschke, die Europäische Union funktioniert plötzlich. Überrascht Sie diese zumindest nach außen präsentierte Geschlossenheit? Nitschke: Das ist erfreulich, ganz klar. Vor allem, dass Staaten wie Ungarn und Polen, die bei der Flüchtlingsfrage 2015 komplett blockiert haben, jetzt Hilfsbereitschaft zeigen. Gerade die Polen tragen eine deutlich größere Last als Deutschland, obwohl sie materiell nicht so gut aufgestellt sind. Auch die Geschlossenheit zwischen den politischen Lagern im Europäischen Parlament ist eindeutig erfreulich.
So viel Lob? Nitschke: Wenn man sich den letzten EU-Gipfel – schön inszeniert im Schloss Versailles – anschaut, wirken die konkreten Handlungen wiederum etwas fad. Die Staaten klopfen sich auf die Sc hulter, wie toll man ist als Europäerin und Europäer. Doch was ist beim Gipfel herausgekommen?
Gut, die EU gibt mehrere Millionen für die Ukraine aus, es wird Geld für militärische Ankäufe bewilligt – das ist bemerkenswert, weil es das noch nie gab in der Geschichte der EU. Aber die Staaten wollten nicht einmal eine symbolische Geste liefern und die Ukraine als Beitrittskandidaten akzeptieren. Das hätte zunächst nichts gekostet. Und dennoch haben die Europäer zu zaghaft agiert – gerade Deutschland. ein Dritte-Welt-Land wäre. Solange wir europaweit pro Tag rund 600 Millionen Euro überweisen, so lange werden die Gehälter der Beamten in Russland finanziert. Würde das gestoppt, wird kein Polizist, keine Lehrerin mehr bezahlt. Dann würde das System intern kollabieren.
Sie plädieren für einen harten Schnitt bei der Energie-Frage? Nitschke: Warum nicht nur fünf Stunden am Tag Strom in Deutschland? Es ist Krieg in Europa. Anderswo sterben Menschen, damit wir hier beheizte Räume haben. Die jungen Menschen fliegen drei Stunden nach Mallorca, sie könnten genauso in drei Stunden in Kiew sein.
Es ist aber nicht realistisch, dass die EU überhaupt kein Gas und Öl mehr aus Russland bezieht, oder? Nitschke: Die Debatte läuft ja glücklicherweise weiter. Erdöl könnte man wahrscheinlich kompensieren, beim Gas ist es nicht so einfach.
Viele, vor allem die jüngeren Generationen, konnten sich nicht vorstellen, dass ein Krieg in Europa möglich ist. Nitschke: Man sollte nicht vergessen, dass es auch heutzutage noch Feinde gibt. Systeme, die unsere Lebensweise als falsch betrachten. Russland ist im Grunde ein neofaschistisches Regime. Es hält uns für verweichlicht, dekadent, sogar erpressbar. Wir sind abhängig von russischen Ressourcen.