Nordwest-Zeitung

,Beschämend­e deutsche Reaktion‘

Politikwis­senschaftl­er Nitschke über EU-Sanktionen und Russlands Kollaps

- Von Christoph Tapke-Jost

Freedom Day-Rummel

Herr Nitschke, die Europäisch­e Union funktionie­rt plötzlich. Überrascht Sie diese zumindest nach außen präsentier­te Geschlosse­nheit? Nitschke: Das ist erfreulich, ganz klar. Vor allem, dass Staaten wie Ungarn und Polen, die bei der Flüchtling­sfrage 2015 komplett blockiert haben, jetzt Hilfsberei­tschaft zeigen. Gerade die Polen tragen eine deutlich größere Last als Deutschlan­d, obwohl sie materiell nicht so gut aufgestell­t sind. Auch die Geschlosse­nheit zwischen den politische­n Lagern im Europäisch­en Parlament ist eindeutig erfreulich.

So viel Lob? Nitschke: Wenn man sich den letzten EU-Gipfel – schön inszeniert im Schloss Versailles – anschaut, wirken die konkreten Handlungen wiederum etwas fad. Die Staaten klopfen sich auf die Sc hulter, wie toll man ist als Europäerin und Europäer. Doch was ist beim Gipfel herausgeko­mmen?

Gut, die EU gibt mehrere Millionen für die Ukraine aus, es wird Geld für militärisc­he Ankäufe bewilligt – das ist bemerkensw­ert, weil es das noch nie gab in der Geschichte der EU. Aber die Staaten wollten nicht einmal eine symbolisch­e Geste liefern und die Ukraine als Beitrittsk­andidaten akzeptiere­n. Das hätte zunächst nichts gekostet. Und dennoch haben die Europäer zu zaghaft agiert – gerade Deutschlan­d. ein Dritte-Welt-Land wäre. Solange wir europaweit pro Tag rund 600 Millionen Euro überweisen, so lange werden die Gehälter der Beamten in Russland finanziert. Würde das gestoppt, wird kein Polizist, keine Lehrerin mehr bezahlt. Dann würde das System intern kollabiere­n.

Sie plädieren für einen harten Schnitt bei der Energie-Frage? Nitschke: Warum nicht nur fünf Stunden am Tag Strom in Deutschlan­d? Es ist Krieg in Europa. Anderswo sterben Menschen, damit wir hier beheizte Räume haben. Die jungen Menschen fliegen drei Stunden nach Mallorca, sie könnten genauso in drei Stunden in Kiew sein.

Es ist aber nicht realistisc­h, dass die EU überhaupt kein Gas und Öl mehr aus Russland bezieht, oder? Nitschke: Die Debatte läuft ja glückliche­rweise weiter. Erdöl könnte man wahrschein­lich kompensier­en, beim Gas ist es nicht so einfach.

Viele, vor allem die jüngeren Generation­en, konnten sich nicht vorstellen, dass ein Krieg in Europa möglich ist. Nitschke: Man sollte nicht vergessen, dass es auch heutzutage noch Feinde gibt. Systeme, die unsere Lebensweis­e als falsch betrachten. Russland ist im Grunde ein neofaschis­tisches Regime. Es hält uns für verweichli­cht, dekadent, sogar erpressbar. Wir sind abhängig von russischen Ressourcen.

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Zeichnung: Jürgen Tomicek

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