Andrij Melnyk – der Grenzgänger
Der Botschafter schläft schlecht. Nicht grundsätzlich. Aber seit dem 24. Februar wacht Andrij Melnyk morgens auf – kalter Schweiß. Nach höchstens vier Stunden Schlaf. Jeden Morgen dasselbe. Der Krieg in seinem Heimatland treibt den Botschafter der Ukraine um. Er isst kaum, ein wenig Frühstück, aber sonst?
Melnyk sitzt an einem Spätnachmittag vergangener Woche in seinem Büro in der Botschaft. Vor seiner Bürotür stehen Personenschützer, hinter ihm die ukrainische Flagge. Draußen scheint die Sonne. Aber ihm ist nicht nach Sonnenschein. In seinem Land tobt seit mittlerweile 25 Tagen ein Krieg. „Ich kann das nicht ertragen – diese neue schreckliche Realität. Wir leben in einer Welt, die verrückt geworden ist, unkalkulierbar, barbarischer. Wir wissen nicht, was kommt. Es kann noch viel schlimmer werden, auch für Deutschland, wenn man nicht mutig handelt.“
Melnyk, 46 Jahre alt, Völkerrechtler aus Lemberg, ist seit sieben Jahren Botschafter der Ukraine in Deutschland. Vor acht Jahren hat Russlands Machthaber Wladimir Putin die Krim annektieren lassen. Sergej Netschajew, Botschafter der Russischen Föderation in Berlin, sitzt nur 600 Meter
Der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk
Luftlinie entfernt. Melnyk hat mit Netschajew seit dessen Amtsübernahme 2018 keinerlei Kontakt gehabt. Eiszeit.
Öffentlicher Aufschrei
Melnyk ist eloquent. Er spricht Deutsch und Englisch fließend, seine Grammatik ist ohne jeden Fehler. Er kann mühelos sprachliche Feinheiten unterscheiden. Wenn der ukrainische Botschafter also über die Bundesregierung sagt, diese habe sich bislang im Ukraine-Krieg „feige“verhalten – der Fernsehmoderator hatte es in Frageform verpackt, Melnyk hatte die Vokabel in seiner Antwort übernommen –, dann meint er es so. Deutschland. Feige. Aha. Die Entrüstung darüber war programmiert. Öffentlicher
Aufschrei. So dürfe sich ein Diplomat nicht verhalten. Melnyk agiere mehr als Ankläger, denn als Diplomat.
Der Botschafter muss nun aushalten, dass der Ärger über ihn in seinem Gastland aus mehreren Ecken kommt, weil Politiker finden, Melnyk schieße über das Ziel hinaus. Der Kritisierte sagt zur Kritik an seiner Person: „Feige – ich stehe zu diesem Begriff.“Er bitte um etwas Nachsicht: Deutsch sei nicht seine Muttersprache. „Ich hätte auch eine Verbalnote schicken können. Aber klare Sprache ist manchmal besser. Ich bin und bleibe Diplomat, ich bin kein Politiker, wie mir manche vorwerfen.“
Der deutschen Politik hält Melnyk vor, diese habe die Ukrainer nicht verstanden, Berlin habe Kiew nie richtig zugehört. „Wir haben Tausende Stunden im Normandie-Format seit sieben Jahren miteinander verhandelt, an einem Tisch zusammengesessen. Und es bleibt das Gefühl zurück: Die Deutschen verstehen uns immer noch gar nicht. Sie begreifen nicht, dass Wladimir Putin spätestens mit der Annexion der Krim 2014 den Plan hatte, die Ukraine von der Landkarte zu löschen.“
Die Enttäuschung darüber ist zu hören: „Wir haben vertraut. Wir haben ja Deutschland und Angela Merkel blind vertraut.“Und nun? Was ihm zu diesem Deutschland in dieser Lage einfällt? Bitte ein Adjektiv. Er liefert gleich vier: „Ängstlich, unsicher, unentschlossen, geschockt.“
„Wir brauchen Waffen“
Der Botschafter hat einen Wunsch, gerade jetzt, da die Regierungschefs von Polen, Tschechien und Slowenien mit dem Zug in Kiew bei Präsident Wolodymyr Selenskyj waren. „Ich hätte mir gewünscht, Bundeskanzler Olaf Scholz wäre nach Kiew gereist und hätte dort gesagt: Ich bin ein Kiewer. Das wäre ein megastarkes Signal an die Welt gewesen.“John F. Kennedy lässt grüßen. Aber so verzweifele er beinahe jeden Tag. „In Berlin loben Politiker den Mut der Ukraine. Bravo, Ukraine! Das macht mich wahnsinnig. Aber wir brauchen drei Sachen: Waffen, Waffen und Waffen. Gestern, heute und morgen, um uns zu verteidigen.“
Melnyk fordert eine Flugverbotszone der Nato oder einer „Koalition der Willigen und Mutigen“– wenigstens für den Luftraum über den Atomkraftwerken Tschernobyl und Saporischschja. Der Krieg auf dem Boden sei noch lange nicht entschieden. „Er wird noch länger gehen – noch Wochen, vielleicht auch Monate. Aber Putin hat sich verrechnet. Er wird die Ukraine nie russisch machen können. Niemals.“Sagt der Botschafter.