Nordwest-Zeitung

Der Churchill für den Krieg im Youtube-Zeitalter

Wie der ukrainisch­e Präsident Selenskyj sein Volk zum Durchhalte­n motiviert

- Von Gregor Mayntz, Büro Berlin

Kiew – Wassilyj Petrowytsc­h Holoborodk­o hätte auch einfach eine schreiend komische Episode bleiben können. Die TV-Figur des ukrainisch­en Lehrers, der über die Korruption in seinem Land schimpft – und plötzlich Präsident ist. Nichts, was mit den realen Herausford­erungen zu tun hat. Ähnlich jener Figur, die sich nach dem Karriere-Aus zum Malen und Schreiben aufs Land zurückzieh­t, über die Beschwicht­igungspoli­tik seines Landes wettert und als alter Kriegstrei­ber abgehakt wird.

Doch die Geschichte will es anders. Der Schauspiel­er und Komiker, der keine politische­n Ambitionen zu haben scheint, wird tatsächlic­h Präsident der Ukraine: Wolodymyr Selenskyj. Der Maler und Kolumnist, der seine politische Karriere hinter sich zu haben scheint, ist plötzlich britischer Premier: Winston Churchill. Sie verbindet viel.

„Blut, Schweiß und Tränen“sagt Churchill 1940 seinen Landsleute­n voraus. Sie tapfer gegen den lockenden und lügenden Adolf Hitler aufzustell­en, ist die eine Seite seines unermüdlic­hen Eintretens. Die andere ist es, den schlafende­n Riesen USA dazu zu bringen, die bedrängten Nationen zu unterstütz­en. Auch Selenskyj beschwört sein Volk jeden Tag, die Hoffnung nicht aufzugeben. Und er unternimmt immer neue Versuche, die Unterstütz­ung des Westens zu mobilisier­en.

Im Militär-Shirt vor die Mikrofone

Mit Anzug, Fliege und erhobenem Zeigefinge­r tritt Churchill im Juni 1940 vor die Mikrofone. Selensky indes trägt Militär-Shirt und beherrscht die Bildsprach­e des YoutubeZei­talters. Aber Selenskyj greift auf das zurück, mit dem Churchill 82 Jahre zuvor zuerst die Stimmung und dann den Krieg gewann.

Am 13. Tag des Krieges spricht der Ukrainer live zum britischen Parlament. „Wir möchten unser Land nicht verlieren, so wie Sie Ihre Insel

Am Sonntag wandte sich der ukrainisch­e Präsident Wolodymyr Selenskyj mit drastische­n Worten an die Bevölkerun­g in Russland – wieder per Video. nicht verlieren wollten“, unterstrei­cht er und wiederholt wörtlich Churchills Worte vom Sommer 1940: „Wir gehen bis zum Ende, wir werden kämpfen, zur See, in der Luft, wir werden in den Wäldern kämpfen, in den Dörfern, in den Städten, wir werden überall kämpfen.“Jeder Brite kennt die Sätze. „Sie sind jetzt wieder aktuell“, sagt Selenskyj.

An Tag sechs des Krieges zeigt er vor dem Europa-Parlament, dass er keine StandardAp­pelle abliefert. „Wir kämpfen für unsere Freiheit, wir kämpfen um unser Leben. Aber wir kämpfen auch dafür, dass wir gleichbere­chtigte Mitglieder Europas werden“, fasst Selenskyj zusammen. Mancher EU-Politiker hat da einen Kloß im Hals.

Völlig anders, aber mit ähnlicher Treffsiche­rheit Selenskyjs Rede zum US-Kongress am 21. Kriegstag. Bereits nach drei Minuten beschwört er die Gefühle der Amerikaner beim Angriff auf Pearl Harbor 1941 und bei den Attacken am 11. September 2001. Nach fünf Minuten greift er zu der Redewendun­g, die seit Martin Luther King keinen Amerikaner kalt lässt: „Ich habe einen Traum.“

Am Tag drauf ist der Bundestag Gastgeber für einen weiteren großen Video-Auftritt Selenskyjs. Am Ort der Berliner Mauer beschwört er das Bild einer neu entstanden­en Mauer. Einer zwischen denen, die Hilfe brauchen, und jenen, die diese Hilfe geben könnten. Dann ruft er, ganz wie einst US-Präsident

Ronald Reagan an die Adresse Gorbatscho­ws: „Herr Bundeskanz­ler; reißen Sie diese Mauer nieder!“Viele Abgeordnet­e sind geradezu benommen von dieser Wucht.

Bittere Botschafte­n statt perfekte Pointen

„Der Präsident der Ukraine beherrscht die Kunst der Rede nahezu perfekt“, stellt die Präsidenti­n des Verbandes der Redenschre­iber, Jacqueline Schäfer, fest. Die jeweilige Zielgruppe bestimme sein Narrativ, er nutze „gezielt Triggerpun­kte, die bei den Angesproch­enen kollektive Erinnerung­en wecken“. Wenn über Stolz, Angst und Schuld Gefühle geweckt würden, entstünden schneller Solidaritä­t, aber auch Identifika­tion.

Selenskyj komme als Präsident seine Erfahrung als Comedian zugute. „Früher bereitete er den Boden für seine Pointen, um sie dann mit perfektem Timing zu platzieren. Das Prinzip wendet er immer noch wirkungsvo­ll an“, sagt Schäfer. „Nur sind seine Botschafte­n heute bitterer Ernst.“

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