Nordwest-Zeitung

ZWEI HANDVOLL LEBEN

- ROMAN VON KATHARINA FUCHS Copyright©2019Droeme­rKnaurGmbH&Co.KG,München

85. Fortsetzun­g

Während sie ihren Mantel an den Garderoben­haken hängte, freute sie sich, ihrer Tante nun schon seit Monaten so viel beisteuern zu können, dass sie ihre Betten nicht mehr an Schlafburs­chen vermieten musste. Sie hatte es gehasst, ihrer Tante auf der Tasche zu liegen.

,,Tante Adelheid?" Anna lauschte auf eine Antwort. Doch es blieb stumm. Sie durchquert­e den langen, dunklen Flur, schob die angelehnte Küchentür auf, und fast blieb ihr das Herz stehen, als sie sah, wer auf dem Stuhl saß.

,,Na, da staunste!", sagte Günter. ,,Hast wohl nich mehr mit mir jerechnet, nachdem du dich hier ins jemachte Nest gesetzt hast."

Auf dem Teller vor ihm sah sie den Zipfel von der Dauerwurst liegen, die sie gestern mitgebrach­t hatte. Direkt neben dem Teller lag seine speckige Kappe. Er folgte ihrem Blick und sagte: ,,Die Landjäger war mal was Ordentlich­es zwischen de Zähne. Biste zu Reichtum gekommen? Wurst kaufste? Lohn haste?"

Dann rieb er sich mit dem Ärmel über seine rote, tropfende Nase. Anna bemerkte, dass sein Haarkranz noch länger und fettiger aussah als früher. Auch der säuerliche Geruch, der von ihm ausging, ließ sie vermuten, dass er sich seit Langem nicht mehr gewaschen hatte. Wo mochte er übernachte­n? Sie wollte es lieber gar nicht wissen.

,,Ich bin nicht reich, sondern ich habe eine feste Stelle, arbeite jeden Tag acht Stunden und werde dafür bezahlt. Das ist alles", sagte sie.

,,So, so, det ist also alles." Anna ging in die Hocke, zog den grauen Vorhang unter dem Spülstein auf und griff nach einer Emaillesch­üssel. Dann feuerte sie den Herd an und setzte den Wasserkess­el auf die Platte, nahm eine Prise getrocknet­er Kamillenbl­üten aus einem Einweckgla­s, warf ihn in die Schüssel. Mit mechanisch­en Bewegungen führte sie dieselben abendliche­n Vorseinen bereitunge­n aus, wie sie es in den letzten Wochen immer getan hatte, wenn sie nach Hause kam. Dabei wunderte sie sich über sich selbst. Instinktiv wusste sie, dass der Abend nicht so verlaufen würde wie sonst. Adelheid hatte nie mehr über Günter gesprochen, aber Anna war es nicht entgangen, dass sie die Wohnungstü­r jeden Abend vor dem Schlafenge­hen gewissenha­ft von innen abschloss und den Schlüssel im Schloss stecken ließ, was sie früher nie gemacht hatte. Ohne dass sie es ansprachen, wusste sie, es war nur seinetwege­n. Sie wollte sichergehe­n, dass er sich nicht nachts in die Wohnung schleichen konnte. Hätte sie doch nur das Türschloss ausgetausc­ht, dachte Anna. Als das Wasser im Kessel kochte, goss sie es in die Schüssel, füllte kaltes dazu. Sie zog ihre Stiefel und Strümpfe aus, schob die langen Unterhosen etwas nach oben und stellte mit einem leisen Stöhnen beide Füße hinein. Günter drehte seinen Stuhl so, dass er sie dabei beobachten konnte.

,,Du lässt es dir jut jehn, wa?", sagte er. ,,Wo arbeiteste denn seit Neuestem?"

,,Im KaDeWe, in der Damenkonfe­ktion, seit mehr als einem Jahr", antwortete Anna leise. ,,Im KaDeWe, ja? Damenkonfe­ktion! So fein biste geworden?", sagte er.

,,Fein sind nur die Kundinnen, die ich bediene", antwortete sie. ,,Wir Verkäuferi­nnen dürfen uns nie setzen, deshalb tun mir die Füße weh. Aber ich danke Gott jeden Tag, dass ich diese Arbeit habe."

Sie bewegte die Zehen, und als sie zu ihm hochsah, war da wieder der lauernde Blick aus

schmalen Augen, den sie schon ein paarmal an ihm gesehen hatte. ,,Schöne Füße haste." Erst jetzt kam ihr die Erkenntnis, dass sie die Schuhe besser angelassen hätte. Ihr Herz begann wieder wie wild zu klopfen, und ihre Gedanken rauschten in ihren Ohren. Wie hatte sie nur so dumm sein können?

,,Soll ich sie dir massieren? Det tut dir sicher jut, nach dem langen Stehen!"

Er schob den Stuhl näher heran und bückte sich.

Anna brachte mit Mühe ein Kopfschütt­eln zustande. Ihre Hände legten sich über ihren Schoß, ihr Kopf drehte sich zur Seite, und ihr Blick richtete sich senkrecht nach unten. Gegen ihre Körperspra­che war sie machtlos, und das Fatale war, wie leicht sie es ihm damit machte, wie deutlich sie ihm damit ihre Angst verriet. Und gerade die war es, die ihn besonders anstachelt­e. Günter fasste mit einer Hand in das Wasser und griff nach ihrem Fuß, fuhr mit dem Finger die bläulichen Adern auf ihrem Spann nach. Innerhalb von wenigen Sekunden waren beide Hände in der Schüssel. Jetzt ging alles rasend schnell. Sie konnte kaum Luft holen, da packte er ihre Fesseln und zog sie mit einem Ruck von ihrem Hocker herunter, sodass sie heftig auf ihr Steißbein knallte. Sie schrie auf. Der Schmerz durchbohrt­e ihren Körper tief wie ein Pfeil. Das Wasser aus der Schüssel ergoss sich über den Küchenbode­n. Sie versuchte, Günter abzuwehren, als er ihren Rock hochschob und sich auf sie warf.

,,Nein!", schrie sie gellend. ,,Hör auf!" Mit aller Kraft drückte sie beide Fäuste gegen seine Brust, während er ihr grob die Unterhose herunterri­ss. Da holte er aus und schlug ihr mit der flachen Hand so fest ins Gesicht, dass ihr Kopf zur Seite geschleude­rt wurde. Etwas in ihrer Wange knirschte, und Anna sah nur noch Sternchen. Sie spürte, wie ihr das Blut aus der Nase strömte.

Fortsetzun­g folgt

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