ZWEI HANDVOLL LEBEN
125. Fortsetzung
Die Musik wurde lauter, und der Sänger in dem weißen Anzug mit dem kleinen runden Hut machte ihnen die rasend schnellen Tanzschritte vor. Als er sich nach vorne beugte, tat es ihm das vergnügungssüchtige Publikum nach. Als er die Hände abwinkelte und die Beine nach außen kickte, kopierten es Hunderte von jungen Menschen in Abendgarderobe. Abwechselnd drehten sie die Knie nach außen und innen, brachten die Beine in die X- und die O-Stellung. Mit den Armen wurde gerudert. Die nackten Waden der Damen in kurzen Kleidern schnellten seitlich in die Luft. Absätze trafen auf Schienbeine. Die Musik wurde immer lauter, der Rhythmus hämmernder und fordernder. Die Menschen schwitzten, ihre Leiber dampften. Annas lachsfarbenes Crêpekleid klebte an ihrer Haut. Von den dunkelgrünen Wänden tropfte das Kondenswasser. Plötzlich stoppte die Musik, und es herrschte Stille. Man verharrte auf der Tanzfläche und sah angespannt zur Bühne. Dann griff einer der Musiker zu einem Akkordeon. Das Lied, das jetzt folgte, war ein Tango mit einem Refrain, den offenbar die meisten kannten. Denn sie grölten ihn aus voller Kehle textsicher mit:
Vorgestern Nacht hab ich von zwei Mädchen geträumt, die waren furchtbar kregel und aufgeräumt.
Die eine hatte nen’ schwarzen Bubikopf und die andre einen braunen,
und sie hatten einander so lieb, das war einfach zum Staunen. Sie waren leicht gekleidet – glatt zum Erkälten,
und sie taten einander immer Gleiches mit Gleichem vergelten.
Anna bewegte nur die Lippen, sah hinüber zu Ella und dann zu Carl. Beide schienen von der ekstatischen Atmosphäre mitgerissen zu werden. Ihre Körper berührten sich in der Enge. Noch mehr Menschen drängten von hinten und von den Seiten auf die Tanzfläche. Die Kabarett- und Varietévorstellungen waren zu Ende, aber die Berliner suchten immer noch das rauschhafte Vergnügen dieser Nacht. Manche hielten Gläser in der Hand, schütteten sich den Alkohol in die Kehle oder schwappten ihn wahllos über billige oder teure Abendkleider aus hauchdünnem Stoff. Der Sänger streckte zwei Finger in die Luft und gab damit ein Zeichen, forderte die Zuschauer zum Paartanz auf. Anna spürte eine Hand, die sich zwischen ihre Schulterblätter legte, und drehte sich um. Es war Carl, der sich wie sie, wie alle hier, der Ekstase dieser Nacht hingab. Er hielt sie in seinen Armen und übernahm wieder die Führung, er tat dies mit der Entschlossenheit, die sie schon bei ihrem ersten Tanz im Prater so hingerissen hatte. Wieder griff er nach ihren Händen, hielt sie fest, um sie dann unter seinem Arm hindurchzuwirbeln. Fing sie wieder auf, legte ihr die Hand auf den Rücken, und ihre Körper schmiegten sich aneinander. Anna wollte das euphorische Gefühl festhalten. Doch da war ein Schatten, der sich über ihre Stimmung legte. Der Rausch, in den sie sich begaben, hatte etwas Ungesundes an sich. Von der aufgeheizten Stimmung ging eine dumpfe Bedrohung aus.
Am frühen Morgen wachte Anna auf und wusste, dass sich etwas verändert hatte. Durch das Fenster zum Hof fiel noch kein Lichtschimmer in ihr Schlafzimmer. Vermutlich war es noch vor sechs Uhr. Sie tastete über ihrem Baumwollnachthemd nach ihren Brüsten und merkte, dass sie verhärtet waren und spannten. Dann stieg auch schon die Übelkeit in ihr auf. Sie kannte die Anzeichen, und die Vorstellung, wieder schwanger zu sein, löste gemischte Gefühle in ihr aus. Neben sich im Ehebett hörte sie Carls gleichmäßiges Atmen. Unmöglich, es ihm jetzt schon zu sagen. Er würde nicht wollen, dass sie trotzdem weiterarbeitete. Und die Enttäuschung, wenn sie wieder eine Fehlgeburt hätte, würde er kaum verkraften, so sehnlich, wie er sich Kinder wünschte. Anna drehte sich zur Seite und stand, ganz vorsichtig darauf bedacht, ihn nicht zu wecken, aus dem Bett auf. Im Dunkeln ertastete sie ihre Kleidung auf dem Stuhl, legte sie sich über den Arm und schlich barfuß aus dem Zimmer. In der Küche zog sie sich an, holte ein Stück Brot aus dem Tontopf, begann sich kleine Bröckchen davon abzubrechen und in den Mund zu schieben. Nie einen leeren Magen zu haben war das Einzige, das gegen die Übelkeit half. Sie feuerte den Herd an. Und als die Kohlen endlich glühten, hielt sie ihre eiskalten Hände darüber.
Eine Stunde später war Carl bereits aus dem Haus gegangen. Nacheinander erschienen Ida und Emma zur Arbeit. Ihrer Schwester genügte ein Blick, um zu wissen, was mit Anna los war. Emmas Ausdruck wurde weich. Sie hatte bereits zwei Kinder und freute sich für Anna.
,,Seit wann weißt du es?", fragte sie.
,,Seit heute Morgen bin ich mir sicher." Anna senkte die Stimme.
,,Ich bin seit einer Woche überfällig."
Ida sah von ihrer Nähmaschine auf, als sie die beiden tuscheln hörte. ,,Vor mir müsst ihr das nicht verheimlichen. Ich weiß Bescheid", plapperte sie drauflos. ,,Ich habe schon so viele jüngere Geschwister bekommen, eines war eine Totgeburt, zwei von ihnen sind kein halbes Jahr alt geworden …"
Fortsetzung folgt