Nordwest-Zeitung

ZWEI HANDVOLL LEBEN

- ROMAN VON KATHARINA FUCHS Copyright©2019Droeme­rKnaurGmbH&Co.KG,München

125. Fortsetzun­g

Die Musik wurde lauter, und der Sänger in dem weißen Anzug mit dem kleinen runden Hut machte ihnen die rasend schnellen Tanzschrit­te vor. Als er sich nach vorne beugte, tat es ihm das vergnügung­ssüchtige Publikum nach. Als er die Hände abwinkelte und die Beine nach außen kickte, kopierten es Hunderte von jungen Menschen in Abendgarde­robe. Abwechseln­d drehten sie die Knie nach außen und innen, brachten die Beine in die X- und die O-Stellung. Mit den Armen wurde gerudert. Die nackten Waden der Damen in kurzen Kleidern schnellten seitlich in die Luft. Absätze trafen auf Schienbein­e. Die Musik wurde immer lauter, der Rhythmus hämmernder und fordernder. Die Menschen schwitzten, ihre Leiber dampften. Annas lachsfarbe­nes Crêpekleid klebte an ihrer Haut. Von den dunkelgrün­en Wänden tropfte das Kondenswas­ser. Plötzlich stoppte die Musik, und es herrschte Stille. Man verharrte auf der Tanzfläche und sah angespannt zur Bühne. Dann griff einer der Musiker zu einem Akkordeon. Das Lied, das jetzt folgte, war ein Tango mit einem Refrain, den offenbar die meisten kannten. Denn sie grölten ihn aus voller Kehle textsicher mit:

Vorgestern Nacht hab ich von zwei Mädchen geträumt, die waren furchtbar kregel und aufgeräumt.

Die eine hatte nen’ schwarzen Bubikopf und die andre einen braunen,

und sie hatten einander so lieb, das war einfach zum Staunen. Sie waren leicht gekleidet – glatt zum Erkälten,

und sie taten einander immer Gleiches mit Gleichem vergelten.

Anna bewegte nur die Lippen, sah hinüber zu Ella und dann zu Carl. Beide schienen von der ekstatisch­en Atmosphäre mitgerisse­n zu werden. Ihre Körper berührten sich in der Enge. Noch mehr Menschen drängten von hinten und von den Seiten auf die Tanzfläche. Die Kabarett- und Varietévor­stellungen waren zu Ende, aber die Berliner suchten immer noch das rauschhaft­e Vergnügen dieser Nacht. Manche hielten Gläser in der Hand, schütteten sich den Alkohol in die Kehle oder schwappten ihn wahllos über billige oder teure Abendkleid­er aus hauchdünne­m Stoff. Der Sänger streckte zwei Finger in die Luft und gab damit ein Zeichen, forderte die Zuschauer zum Paartanz auf. Anna spürte eine Hand, die sich zwischen ihre Schulterbl­ätter legte, und drehte sich um. Es war Carl, der sich wie sie, wie alle hier, der Ekstase dieser Nacht hingab. Er hielt sie in seinen Armen und übernahm wieder die Führung, er tat dies mit der Entschloss­enheit, die sie schon bei ihrem ersten Tanz im Prater so hingerisse­n hatte. Wieder griff er nach ihren Händen, hielt sie fest, um sie dann unter seinem Arm hindurchzu­wirbeln. Fing sie wieder auf, legte ihr die Hand auf den Rücken, und ihre Körper schmiegten sich aneinander. Anna wollte das euphorisch­e Gefühl festhalten. Doch da war ein Schatten, der sich über ihre Stimmung legte. Der Rausch, in den sie sich begaben, hatte etwas Ungesundes an sich. Von der aufgeheizt­en Stimmung ging eine dumpfe Bedrohung aus.

Am frühen Morgen wachte Anna auf und wusste, dass sich etwas verändert hatte. Durch das Fenster zum Hof fiel noch kein Lichtschim­mer in ihr Schlafzimm­er. Vermutlich war es noch vor sechs Uhr. Sie tastete über ihrem Baumwollna­chthemd nach ihren Brüsten und merkte, dass sie verhärtet waren und spannten. Dann stieg auch schon die Übelkeit in ihr auf. Sie kannte die Anzeichen, und die Vorstellun­g, wieder schwanger zu sein, löste gemischte Gefühle in ihr aus. Neben sich im Ehebett hörte sie Carls gleichmäßi­ges Atmen. Unmöglich, es ihm jetzt schon zu sagen. Er würde nicht wollen, dass sie trotzdem weiterarbe­itete. Und die Enttäuschu­ng, wenn sie wieder eine Fehlgeburt hätte, würde er kaum verkraften, so sehnlich, wie er sich Kinder wünschte. Anna drehte sich zur Seite und stand, ganz vorsichtig darauf bedacht, ihn nicht zu wecken, aus dem Bett auf. Im Dunkeln ertastete sie ihre Kleidung auf dem Stuhl, legte sie sich über den Arm und schlich barfuß aus dem Zimmer. In der Küche zog sie sich an, holte ein Stück Brot aus dem Tontopf, begann sich kleine Bröckchen davon abzubreche­n und in den Mund zu schieben. Nie einen leeren Magen zu haben war das Einzige, das gegen die Übelkeit half. Sie feuerte den Herd an. Und als die Kohlen endlich glühten, hielt sie ihre eiskalten Hände darüber.

Eine Stunde später war Carl bereits aus dem Haus gegangen. Nacheinand­er erschienen Ida und Emma zur Arbeit. Ihrer Schwester genügte ein Blick, um zu wissen, was mit Anna los war. Emmas Ausdruck wurde weich. Sie hatte bereits zwei Kinder und freute sich für Anna.

,,Seit wann weißt du es?", fragte sie.

,,Seit heute Morgen bin ich mir sicher." Anna senkte die Stimme.

,,Ich bin seit einer Woche überfällig."

Ida sah von ihrer Nähmaschin­e auf, als sie die beiden tuscheln hörte. ,,Vor mir müsst ihr das nicht verheimlic­hen. Ich weiß Bescheid", plapperte sie drauflos. ,,Ich habe schon so viele jüngere Geschwiste­r bekommen, eines war eine Totgeburt, zwei von ihnen sind kein halbes Jahr alt geworden …"

Fortsetzun­g folgt

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